Das Bildnis des Dorian Gray
Das Bildnis des Dorian Gray (The picture of Dorian Gray, Erstdruck 1890) ist ein Roman des Schriftstellers Oscar Wilde (* 1854; † 1900). Die Hauptfigur, der reiche und schöne Dorian Gray, besitzt ein Porträt, das statt seiner altert und in das sich die Spuren seiner Sünden und Vergehen einschreiben. Während Gray immer maßloser und grausamer wird, bleibt sein Äußeres dennoch jung und makellos schön. Schließlich zerstört er in Verzweiflung das Bild und vernichtet dadurch auch sich selbst.
Themen, die in diesem Roman eine zentrale Rolle spielen, sind die Moralität der Sinnlichkeit in der Zeit des Viktorianismus, die Dekadenz der englischen Oberschicht, der Ästhetizismus des Fin de siècle als Kunstphilosophie und Lebenshaltung.
Der Roman gilt als Wildes Prosa-Hauptwerk und als Kommentar zur Aufgabe der Kunst. Dabei kann es durchaus auch als Kritik an dem geschilderten und im Vorwort proklamierten Ästhetizismus gelesen werden.
Handlung
Die Handlung beginnt mit einem Gespräch zwischen dem in Eton ausgebildeten Dandy Lord Henry Wotton (kolloquial Lord Henry oder Harry) und dem Maler Basil Hallward in einem Atelier, das in einem Garten liegt. Das Gespräch dreht sich um Fragen der Kunst und der Selbstinszenierung.
Hallwards im Atelier aufgestelltes Ganzkörper-Porträt des schönen, jungen Dorian Gray rührt Wottons Neugier, so dass jener von seiner ersten, ergriffenen Begegnung mit dem jungen Mann zu erzählen beginnt, die ihn an „den Rand einer Lebenskrise“ bringe. Dorian Gray verleite ihn zu einer „neuen Kunstrichtung, die alle Leidenschaft der romantischen, alle Vollkommenheit des griechischen Geistes in sich einschließen soll“ (S. 20; zitierte Ausgabe siehe Abschnitt Literatur). Es gehe in der Kunst jedoch um „abstrakte Schönheit“, nicht um „Autobiographie“ (S. 21), weshalb er sich weigert, das Porträt auszustellen – für ihn trägt es zu sichtbar die Spuren seiner eigenen „künstlerischen Vergötterung“ (S. 20) Dorian Grays.
Wotton lernt Dorian Gray kennen, der für Basil Modell sitzt. Wottons Ausführungen über die Selbstentfaltung des Menschen – ohne Furcht vor moralischen Vorstellungen – für einen „neuen Hedonismus“ (S. 36) und über den körperlichen Verfall lösen in Dorian tiefe Bewegung aus. In Anspielung auf die Narziss-Sage sieht Dorian nun zum ersten Mal sein Porträt, und „das Bewusstsein seiner eigenen Schönheit überkam ihn wie eine Offenbarung“ (S. 39) – zugleich halluziniert er den Verfall seiner Schönheit und empfindet Eifersucht auf das Bild. Basil bietet an, es zu zerstören, doch Dorian hindert ihn daran.
Lord Wotton wird sich der Macht bewusst, die er über den jungen, „unbefleckten“ Dorian ausübt, und beschließt, ihn nach seinem eigenen Vorbild wie ein Kunstwerk zu formen.
Eine Einladung Wottons zur Tischgesellschaft bei seiner Tante, Lady Agatha, nimmt der Autor zum Anlass, die verschiedenen Typen der englischen Oberschicht zu karikieren. Wotton selbst brilliert mit seinen Ideen, verführt sich und die Anwesenden zu einem Rausch schwindelerregender Aphorismen und Paradoxien.
Dorian Gray verliebt sich in die 17-jährige Schauspielerin Sibyl Vane (siehe Sibyllen, legendäre Prophetinnen; engl. vain = „eitel“), die als einziges Talent in einem kleinen, drittklassigen Theater Shakespeare-Rollen spielt. Er erzählt Wotton von seiner Verliebtheit, was diesen jedoch nur zu zynischen Bemerkungen veranlasst. Kurze Zeit später meldet Dorian auch schon seine Verlobung.
Der Theaterdirektor Mr. Isaacs, mit dem sie einen Vertrag unterschrieben hat, tritt in mehreren Szenen auf; er wird als unsympathischer, „schmieriger“ Jude beschrieben; ein Porträt, das deutlich antisemitische Züge trägt.
Sibyl berichtet ihrer Mutter und ihrem Bruder James Vane von der Verlobung mit ihrem „Märchenprinzen“. Beide sind nicht begeistert; ihr 16-jähriger Bruder, der sich im Begriff befindet, nach Australien zu reisen, schwört Blutrache, falls Dorian ihr „Unrecht“ antue. Sibyls Mutter wird als alternde Schauspielerin dargestellt, der das Theatralische in Fleisch und Blut übergegangen ist. Sibyl selbst lebt in Geschichten aus Kitschromanen; die Zukunft, die sie für ihren Bruder ausmalt, ist eine Collage aus Piraten-, Abenteuer- und Schäfergeschichten.
Lord Henry berichtet Basil von Dorians Verlobung. Basil verletzt diese Entwicklung, weil sie ihm Dorian entfremdet. Dorian Gray tritt hinzu, berichtet von Sibyls letztem Auftritt in „Knabenkleidern“ und vergleicht sie mit den Statuetten in Basils Atelier. Er ist fasziniert davon, nicht eine gewöhnliche Frau zu besitzen, sondern eine, die ihm ermöglicht, die berühmten Theaterheldinnen zu küssen: „Lippen, die Shakespeare das Sprechen lehrte, haben mir ihr Geheimnis ins Ohr geflüstert. Rosalindens Arme umschlangen mich, und Julia küsste ich auf den Mund.“ (S. 109) Er schwört, aus Sibyl eine berühmte Schauspielerin zu machen und sie von ihrem Vertrag freizukaufen.
Ein Theaterbesuch von Dorian, Lord Henry und Basil, bei dem sie Sibyl auf der Bühne sehen sollen, wird zur Enttäuschung: Sibyl entpuppt sich plötzlich als so schlechte Schauspielerin, dass das Publikum den Saal vorzeitig verlässt. Dorian stellt sie hinter der Bühne zur Rede; sie gesteht, dass sie nun nicht mehr spielen könne, weil sie bisher nur Theaterrollen gekannt und diese für das wahre Leben gehalten habe: „Die gemalten Kulissen waren meine Welt. Ich kannte nichts als Schatten, und hielt sie für etwas Wirkliches. (...) Du lehrtest mich, was die Wirklichkeit wirklich ist.“ (S. 122) Dies erinnert an das Höhlengleichnis Platons. Dorian weist sie brüsk zurück und flieht.
Als er nach durchwachter Nacht in seiner herrschaftlichen Wohnung ankommt, bemerkt er die erste Spur der Veränderung auf seinem Porträt. Er reagiert bestürzt auf den Zug von Grausamkeit, den er in dem Gemälde erkennt. Das Bild, begreift er, „barg das Geheimnis seines Lebens und erzählte seine Geschichte“ (S. 129). Er beschließt, seinen Fehler rückgängig zu machen und Sibyl zu heiraten.
Später am Tag teilt ihm jedoch Lord Henry mit, dass Sibyl sich noch in der Nacht mit Blausäure oder Bleiweiß (Farbsymbolik) umgebracht habe. Dorian ist nur kurz entsetzt, dann urteilt er, sie sei „entsetzlich pathetisch“ gewesen und „hatte kein Recht, sich zu töten. Es war selbstsüchtig von ihr“ (S. 141) und findet Gefallen an der, wie er sagt, „schrecklichen Schönheit einer griechischen Tragödie“ (S. 142). Noch für den gleichen Abend verabredet er sich mit Henry zu einem Opernbesuch.
Das Porträt wird für Dorian zu einem „Zauberspiegel“ (S. 150), das ihm seine Seele offenbaren soll. Auch wenn er zunächst über physische Ursachen der Veränderungen spekuliert, ist er sich schließlich doch gewiss, dass sein intensives „Gebet“ in Basil Hallwards Atelier den magischen Tausch ausgelöst haben muss.
Basil Hallward ist entsetzt über Dorians Gleichgültigkeit. Als er das Gemälde noch einmal sehen will, verweigert ihm Dorian den Zugang, selbst als Basil ihm seine tiefe persönliche Abhängigkeit gesteht. Basil selbst ist jedoch inzwischen zu einem anderen Kunstverständnis gekommen: „Form und Farbe erzählen uns von Form und Farbe – das ist alles. Oft scheint mir, die Kunst verbirgt den Künstler weit mehr, als sie ihn jemals offenbart.“ (S. 163)
Dorian plant nun, das Bild zu verstecken, dessen zukünftiger Verfall ihm plastisch vor Augen steht. Er verhüllt es und lässt es in sein ehemaliges Kinderzimmer unter dem Dach tragen, auch wenn ihm der Kontrast zur „makellosen Reinheit seines Knabenlebens“ (S. 171) entsetzlich erscheint.
Derweil intensiviert sich Lord Henrys Einfluss auf Dorian: Ein symbolistischer „französischer Roman“, das so genannte Yellow Book wirkt auf ihn „betörend“, „zersetzend“, „vergiftend“, „den Verstand umnebelnd“ (S. 177) – die „Krankheit des Träumens“ ergreift ihn und bestimmt sein künftiges Leben. Er schafft sich neun Erstausgaben an, jede davon in einer anderen Farbe gebunden.
Dorian lebt in den kommenden Jahren skrupellos seine Selbstentfaltung aus, wie es ihm Lord Henry empfohlen hat. Regelmäßig vergleicht er jedoch die sich zum Schlechten verändernden Züge des Porträts mit seinem Spiegelbild.
Dorian wird zum skandalumwitterten Mittelpunkt der Gesellschaft, gelehrt und weltläufig. „Er war bestrebt, eine neue Lebensauffassung zu erarbeiten, die [...] in der Vergeistigung der Sinne ihre höchste Verwirklichung fände“ (S. 182). Er widmet sich dem Studium vergangener Epochen, deren Geisteshaltungen er wie Theaterrollen annimmt, weiterhin sammelt er Düfte, exotische Musik und Instrumente, Edelsteine und ihre Mythen, Alchemie, Stickereien und Wandteppiche; in Stammbäumen und Gemäldegalerien, literarischen und historischen Figuren, vor allem in den Gewaltherrschern Roms und der Renaissance erkennt er sich wieder.
Am Tag vor seinem 38. Geburtstag, dem 9. November (Dorian entpuppt sich damit als Ebenbild Schillers, der ebenfalls am 10. November geboren ist), begegnet Dorian Basil Hallward, mit dem er seit langem nicht gesprochen hat. Basil ist kurz vor der Abreise nach Paris und will Dorian zuvor sprechen. Dorian lädt ihn in sein Haus ein, wo Basil beginnt, ihn vor kursierenden Gerüchten zu warnen und ihm eine Moralpredigt zu halten. Aus Wut führt Dorian Basil zu seinem Porträt: „Komm mit nach oben, Basil [...] Ich führe ein Tagebuch über jeden Tag meines Lebens, und es verlässt nie den Raum, in dem es geschrieben wird [...] Du wirst nicht lange zu lesen haben.“ (S. 214)
Basil erblickt das Porträt, dessen Antlitz sich mittlerweile in das „Gesicht eines Satyrs“ verwandelt hat und kaum noch kenntlich ist. Basil ist zuerst ungläubig, dann begreift er – da ersticht ihn Dorian mit einem Messer.
Der Mord ist der Anfang eines Wahnsinns, der Dorian ergreift. Er steigert sich in die Lektüre seines symbolistischen Lieblingsromans. Dann lässt er den jungen Chemiker Alan Campbell holen, dessen Ruf er ruiniert hatte, gegen den er jedoch erpresserisches Material besitzt. Campbell beseitigt die Leiche, vermutlich mit Salpetersäure.
Bei einem Diner im Salon der Lady Narborough ist Dorian innerlich nervös, wirkt jedoch selbstsicher. Ein Gespräch mit Lord Henry entspinnt sich, in dem es unter anderem um die dekadenten Lebensformen im herrschenden Fin de Siècle geht. Als er wieder zu Hause ist, verbrennt Dorian weitere Beweisstücke des Mordes, Basils Tasche und Umhang.
Anschließend lässt sich Dorian von einer Droschke in eine entlegene Gegend des Londoner Hafens fahren, wo er eine Opiumhöhle besucht. Auf der Fahrt plagen ihn wahnhafte Bilder: „Der Mond hing am Himmel wie ein gelber Schädel“; die Straßen wirken „wie das schwarze Netz einer unermüdlich webenden Spinne“ (S. 256). In der Bar, die er schließlich betritt, findet er auch eines seiner vielen Opfer, Adrian, mittlerweile bankrott und opiumsüchtig. In den grotesken, verzerrten Fratzen der Opiumsüchtigen findet Dorian die „Hässlichkeit“, die ihm nunmehr als „einzige Wirklichkeit“ erscheint.
Auf der Straße tritt ihm James Vane entgegen, der ihn in der Bar an einem verräterischen Wort erkannt hat: an dem Kosenamen, den seine Schwester einst ihrem Geliebten gab. James bedroht Dorian mit einem Revolver, um den Tod Sibyls zu rächen, erkennt dann jedoch, dass Dorian das Gesicht eines Zwanzigjährigen hat und folgert daraus, dass er nicht derjenige sein kann, der vor 18 Jahren den Selbstmord seiner Schwester verursachte. – Dorian flieht, bevor James von einer Hure erfahren kann, dass sein Irrtum kein Irrtum war.
Dorian wird nun paranoid. Bei einem Wochenende auf dem Lande bei Lord Henrys Cousine, der Herzogin von Monmouth, und ihrem Käfer sammelnden Ehemann fällt er in Ohnmacht, weil er glaubt, James Vanes Gesicht am Fenster gesehen zu haben.
Als Dorian auf einem Spaziergang in eine Jagdgesellschaft gerät, wird versehentlich ein Treiber erschossen. Dorian ist entsetzt, doch die Jäger machen nicht viel Aufsehens darum. Der Treiber ist allen unbekannt. Als Dorian erfährt, dass es sich um einen bewaffneten Seemann gehandelt habe, eilt er, um den aufgebahrten Toten zu identifizieren – es handelt sich um James Vane.
Dorian beschließt nun, sein Leben zu ändern. Als er durchblicken lässt, er habe Basil ermordet, hält ihn Lord Henry für unglaubwürdig und traut ihm keinen Mord zu. Mord und Kunst seien für ihn nur „eine Methode, außergewöhnliche Empfindungen hervorzurufen“ (S. 293) – Kunst für die Oberschicht, Mord für die Arbeiterklasse. Dorian versucht verzweifelt, den skeptischen Henry von der Existenz der Seele zu überzeugen: „Die Seele ist eine schreckliche Wirklichkeit. Man kann sie kaufen und verkaufen und um ihren Preis feilschen. Man kann sie vergiften oder vervollkommnen. In jedem von uns ist eine Seele. Ich weiß es.“ (S. 296) Dorian wirft Henry vor, ihn durch das Buch vergiftet zu haben. Henry hält dagegen, dass die „Bücher, die die Welt unmoralisch nennt“, Bücher seien, „die der Welt ihre eigene Schande vor Augen halten“ (S. 300).
Auf einem nächtlichen Spaziergang bereut Dorian den Hochmut seines Gebets um ewige Jugend. „(Er) wusste, dass er sich besudelt, seinen Geist mit Verderbtheit und seine Phantasie mit Grauen erfüllt hatte“ (S. 302). Auf seinem Porträt jedoch haben sich mittlerweile „ein verschlagener Ausdruck [...] und um den Mund die Falschheit des Heuchlers in tiefen Furchen eingegraben“ (S. 304). Dorian begreift, dass nichts ihn reinwaschen kann, erst recht keine Selbstverleugnung. Er beschließt, das letzte verbliebene Beweisstück für den Mord an Basil Hallward zu zerstören und zückt das Mordmesser gegen das Bild. „So, wie es den Maler getötet hatte, würde es auch das Werk des Malers töten, und alles, was es bedeutete“ (S. 306) – dann, glaubt Dorian, werde er befreit sein.
Als die Dienstboten seine Leiche finden, ist sie kaum zu erkennen, sie hat „ein verlebtes, runzeliges, widerwärtiges Gesicht“. Das Porträt dagegen erstrahlt „in vollem Glanz seiner köstlichen Jugend und Schönheit“ (S. 307).
Interpretation
Stil und Einordnung
Die Erzählung enthält trotz ihrer Verortung im zeitgeschichtlichen Kontext eine Reihe fantastischer Elemente, wie sie etwa auch Oscar Wildes Märchen kennzeichnen.
Literaturhistorisch bedeutet dies einen Bruch mit der in ganz Europa dominanten realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Auch die Anzahl der Figuren ist gegenüber dieser Tradition reduziert.
Intertextuelle Bezüge
Die Erzählung steht intertextuell in Beziehung zu zahlreichen anderen Werken der vergangenen und zeitgenössischen Literatur: Namentlich genannt werden unter anderem Shakespeare, Friedrich Schiller, Michel de Montaigne, Johann Joachim Winckelmann, Antoine-François Prévost (Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut) und Omar Chayyām. Als Quelle für Dorian Grays historische Phantasien diente u. a. Suetons De vita Caesarum. Angespielt wird auch auf die Narziss-Sage, die aus griechischen und römischen Quellen überliefert ist.
Vor allem greift der Roman Elemente des französischen Symbolismus auf. Wörtlich zitiert werden etwa mehrere Gedichte von Théophile Gautier (aus Emaillen und Kameen, 1852) und besonders inspiriert sah sich Wilde durch den Roman À rebours von Joris-Karl Huysmans (deutsch: Gegen den Strich). Vor allem die französische Kunst und Kultur des 19. Jahrhunderts bildet das kulturelle Ideal der Romanfiguren in Dorian Gray, insbesondere der Orientalismus und der Historismus.
Der Orientalismus mit seinem sehnsüchtigen Blick auf den geheimnisvollen Orient und der Historismus mit seiner verspielten Zitatkunst bilden jedoch nicht nur Stilrichtungen, an die Wilde anschließt, sondern die er reflexiv Revue passieren lässt. Die Interessensgebiete, die Wilde im 11. Kapitel über Seiten hinweg aufzählt, bilden somit auch ein Inventar der kulturellen Einbildungskraft im Fin de siècle: orientalische Düfte, exotische Musik und Instrumente, Edelsteine, Märchen und Mythen, Alchemie usw. Die abwechslungssüchtige Anverwandlung historischer Epochen und fremder Kulturen, die Dorian Gray betreibt, ist in diesem Kontext fast schon parodistisch. Damit ist er auch eine Symbolfigur der geschichtsdurstigen und orientsehnsüchtigen Hochkultur des späten 19. Jahrhunderts. Dabei bildet er mit seiner selbstverliebten Existenz zugleich auch eine Kritik der Moralbesessenheit und -vergessenheit des Zeitalters.
Ästhetizismus und Dandytum
Wilde stellte seinem Roman ein Vorwort aus ästhetischen Aphorismen voran, in dem er für die Kunst eine Sphäre außerhalb der Moral fordert. „So etwas wie ein moralisches oder ein unmoralisches Buch gibt es nicht. Bücher sind entweder gut oder schlecht geschrieben. Das ist alles. (...) Das moralische Leben gehört zum Gegenstand des Künstlers, doch die Moralität der Kunst besteht im vollkommenen Gebrauch eines unvollkommenen Mediums.“ (S. 5) Mit diesem Vorwort wollte Wilde wohl unter anderem erreichen, dass die strenge Zensur die Gegenwartsbezüge seines Romans nicht wahrnahm.
Zugleich stellt das Vorwort ein kunstphilosophisches Manifest dar, das der Kunst einen Bereich der Schönheit außerhalb jeden Nutzwertes zuweist: „Alle Kunst ist völlig nutzlos“ (S. 6). „Alle Kunst ist Oberfläche und Symbol zugleich“ – mit diesem ästhetizistischen Satz versucht Wilde, sich in der L'art pour l'art-Debatte des Symbolismus zu positionieren. Oberfläche und Tiefe, Offenbarung und Geheimnis, Pose und Enthüllung sind Paradoxien, die sich durch den Roman ziehen. „Das wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare“ (S. 35).
Bereits in der ersten Szene skizzieren die Atmosphäre und Umgebung des Ateliers einen von der profanen Welt abgegrenzten Raum, der allein der Schönheit vorbehalten ist. Man kann den Roman jedoch auch als eine kritische Distanzierung von der ästhetizistischen Haltung sehen, wobei die grausamen Konsequenzen dieser Haltung deutlich, wenn auch zugespitzt formuliert werden. Die Strategie, einen ästhetisch von der Welt abgeschlossenen Raum zu schaffen, wird durch den Roman eben unterlaufen, denn die Tragik der Figuren liegt oft gerade darin, dass sie Kunst und Leben zu häufig – mit fatalen Folgen – verwechseln.
Dazu gehört auch das Thema Theatralität, das in der Sibyl Vane-Episode eingesetzt wird. Weder die Schauspielerin Sibyl Vane noch Dorian Gray können zwischen dem wirklichen Leben und ihrer theatralischen Rolle wirklich unterscheiden; beide ersehnen sich ein Theaterleben und imaginieren sich in die dramatischen Rollen. Deren Mustern nachzuleben gelingt ihnen im wirklichen Leben nur um den Preis der Lächerlichkeit – oder des eigenen Todes.
Es wäre problematisch, Wildes eigene Haltung einfach mit der seiner Figuren gleichzusetzen. Viele der spöttischen Sentenzen, die z. B. der zynische, manipulative und misogyne Lord Henry Wotton äußert, wird durch die Ironie, mit der sie vorgetragen werden, ein doppelter Boden verliehen. So sagt Lord Henry Wotton z. B.: „Nun hat aber der Wert einer Idee nicht das geringste mit der Aufrichtigkeit desjenigen zu tun, der sie vorbringt. Ja es ist vielmehr zu erwarten, daß die Idee um so mehr rein geistiger Natur sein wird, je unaufrichtiger der Betreffende ist, da sie in diesem Fall nicht von seinen Bedürfnissen, seinen Wünschen oder seinen Vorurteilen gefärbt wird.“ (S. 18) Somit sind Lüge, Verstellung und Ironie gewissermaßen die Bedingungen für Wahrheit.
Das permanente Maskenspiel ist eine Haltung, die auch oft auf die autobiographische Situation Oscar Wildes bezogen wird, der als Homosexueller im viktorianischen England seine Sexualität im Verborgenen ausleben musste. Als sie schließlich öffentlich wurde, verurteilte ihn ein Gericht zu zwei Jahren Zuchthaus, an deren Spätfolgen er wenig später starb. Die unterdrückerische Moralität des viktorianischen Zeitalters brachte auf eine gewisse Weise also auch diese Art von Versteckspiel mit dem „wahren Ich“ hervor.
Man kann aber vermuten, das Wilde in der Figur des Lord Henry Wotton sowohl seine eigene Haltung wie die lustvolle moralische Verantwortungslosigkeit der englischen Oberschicht verhandelt. Die sentenzhafte, kokettierende Sprechweise und die demonstrativen, ironischen Selbstbespiegelungen Wottons zeigen die Sensibilitäten des Dandys, die auch Wilde selbst besaß und zelebrierte: Genuss an „schönen Dingen“, Blumen, Düfte, Musik; hohe Sensibilität für Kleidung, Inneineinrichtung und Umgangsformen, für Oberflächlichkeiten, Verstellung, Provokation, Inszenierung, aber auch für Versteckspiele, Geheimnistuerei und Diskretion. Ein scharfer Sinn für gesellschaftliche Inszenierung und die Lust an der Pose sind die Waffen des Dandys gegen die Profanität sowohl der eigenen Klasse als auch der Unterschicht und gegen die strikte Moralsucht der Gesellschaft.
Psychologische Deutung
Die Analytische Psychologie in der Tradition Carl Gustav Jungs sieht in dem stellvertretend für Dorian Gray selbst alternden Porträt eine Ausprägung des Schattenarchetyps, also der verdrängten negativen Züge einer Persönlichkeit. Ein psychisches Krankheitsbild wurde nach der Novelle benannt (Dorian-Gray-Syndrom).
Wirkungsgeschichte
Die englische Ausgabe wurde in der Buchfassung von 1891 praktisch unverändert nachgedruckt. Es erschienen auch zahlreiche illustrierte Ausgaben. Erst im Jahr 2000 erschien eine erweiterte Ausgabe, die bisher unveröffentlichtes Material enthält, das Wilde auf Anraten seiner Freunde selbst aus dem Buch gestrichen hatte.
Wie ein Blick auf die Liste der deutschen Ausgaben zeigt, erschien eine deutsche Übersetzung unter dem Titel Dorian Gray bereits 1901, ein Jahr nach Oscar Wildes Tod. In den freizügigen 1920er Jahren stieg das Interesse an Dorian Gray so stark an, dass ein halbes Dutzend deutscher Verlage Übersetzungen anfertigen ließen.
Die ersten Verfilmungen entstanden wohl schon nach 1910 als Stummfilm-Fassungen, wobei der Stoff sehr frei für die Leinwand adaptiert wurde. Zahlreiche Kino- und TV-Fassungen entstanden nach 1945. Zwei weitere Verfilmungen sind laut IMDB für 2005 angekündigt.
Referenzen in der Pop-Kultur
Dorian Gray ist eine der sieben literarischen Figuren, die in Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen (2003) die Welt retten, jedoch der Verräter unter ihnen.
Die britische Band The Libertines veröffentlichte 2004 den Song "Narcissist" in dem es heißt "Wouldn't it be nice to be Dorian Gray, just for a day."
Der Sänger James Blunt singt in dem Lied "Tears and Rain" von seinem Album "Back to Bedlam" (2005): "Hides my true shape, like Dorian Gray..."
Ebenso verfasste die deutsch-amerikanische Metal-Band Demons & Wizards auf ihrem 2. Album "Touched by the Crimson King" einen Titel mit dem Namen "Dorian", in dem es sich inhaltlich um Dorian Gray dreht.
Die zentrale Figur der amerikanischen Sitcom Scrubs, Dr. Jonathan „J.D.“ Dorian, ist nach Dorian Gray benannt, sowie der Chefarzt Dr. Kelso nach Lord Kelso, dem verhassten Großvater Dorians im Roman.
Weblinks
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