Rip van Winkle

Aus Weltliteratur

Rip Van Winkle ist eine Erzählung des amerikanischen Schriftstellers Washington Irving (1783–1859), die 1819 im Rahmen seines "Skizzenbuchs" erschien. Neben der Legende von Sleepy Hollow aus demselben Band gilt sie als erste Kurzgeschichte der amerikanischen Literatur und ist bis heute eine der bekanntesten. Angelehnt an eine deutsche Sage, erzählt sie die Geschichte des Bauern Rip Van Winkle, der zur englischen Kolonialzeit in den Bergen New Yorks in einen Zauberschlaf fällt, erst nach zwanzig Jahren wieder aufwacht und feststellt, dass er nun nicht mehr Untertan des englischen Königs, sondern Bürger der Vereinigten Staaten ist.

Inhalt

Der Anfang der Geschichte spielt in der der englischen Kolonialzeit des heutigen amerikanischen Bundesstaats New York, etwa um das Jahr 1770. In einem idyllischen Dorf niederländischer Siedler zwischen dem Hudson River und den „Kaatskill“-Bergen lebt der Bauer Rip Van Winkle ein beschauliches Leben und ist als einfacher und gutmütiger Mann bei Frauen, Kindern und Hunden gleichermaßen beliebt. Da er aber eine „unüberwindbare Abneigung gegen jede Art gewinnbringender Arbeit“ hat, muss er häufig den Zorn seines missmutigen Weibes (nur „Dame Van Winkle“ genannt) erdulden und nutzt jede Gelegenheit, den Unannehmlichkeiten des Ehelebens und der Häuslichkeit zu entrinnen und in Begleitung seines Hundes durch die Wälder zu streifen, um zu angeln oder zu jagen. Auf einem dieser Streifzüge durch die Kaatskills vernimmt er, mitten im Wald, plötzlich seinen Namen und sieht eine menschliche Gestalt, gekleidet in altmodischer niederländischer Tracht und ein Fass Schnaps auf der Schulter tragend. Wortlos folgt er der Erscheinung durch eine Schlucht zu einer Senke, wo sich zu seinem großen Erstaunen eine ganze Gesellschaft ähnlich seltsamer Gestalten - die Szene erinnert Rip an ein altes flämisches Gemälde - zum Kegelspiel zusammengefunden hat. Kein Wort wird gewechselt, allein das Poltern der Kugeln stört die Stille. Wortlos wird Rip geheißen, den Spielern aus dem Fass auszuschenken, aus dem er schließlich selbst kostet, bevor er in einen tiefen Schlaf fällt.

Als er aufwacht, ist die geisterhafte Gesellschaft verschwunden, ebenso sein Hund; statt seines Gewehrs findet Rip nur eine vermoderte Flinte, außerdem stellt er zu seiner Überraschung fest, dass sein Bart scheinbar über Nacht einen Fuß gewachsen ist. Als er in sein Dorf zurückkehrt, erkennt er es kaum wieder - überall sind neue Häuser entstanden, sein eigenes Haus ist verfallen und verlassen, und auch alle Bewohner - und Hunde - scheinen ihm unbekannt und begegnen ihm mit Misstrauen. Rips geliebtes Wirtshaus ist dem Union Hotel gewichen, und dort hängt zwar - so scheint es ihm - immer noch das vertraute Portrait des englischen Königs, doch ist es nun mit dem Schriftzug General Washington versehen. Davor eifert ein Redner über „Wahlen“, „Bürger“, den „Kongress,“ die „Helden von '76“ und ähnliche, für Rip völlig unverständliche Dinge. Als er von der neugierigen Menge zur Rede gestellt wird, erklärt der in Bedrängnis geratene Rip, er sei ein „armer, ruhiger Mann, ein Einwohner des Dorfes und ein treuer Untertan des Königs, Gott segne ihn!“ und wird daraufhin beschuldigt, ein Verräter und Spion zu sein. Erst als ihn eine alte Frau erkennt, löst sich das Rätsel: Rip hat nicht eine Nacht, sondern zwanzig Jahre geschlafen. In der Zwischenzeit ist seine Frau verstorben (die einzige tröstliche Nachricht für ihn), seine Kinder sind erwachsen geworden, und insbesondere hat er die amerikanische Revolution und den Unabhängigkeitskrieg verschlafen. Der älteste Dorfbewohner erklärt, dass es sich bei den wunderhaften Gestalten, die Rip dereinst im Wald angetroffen habe, um niemand geringeres als Henry Hudson und seine holländische Mannschaft gehandelt haben müsse; alle zwanzig Jahre halte Hudson in den Bergen Einkehr, um den Fortschritt des nach ihm benannten Tals in Augenschein zu nehmen. Rip Van Winkle kommt indes im Haushalt seiner Tochter unter und verbringt, befreit vom „Joch der Ehe,“ einen angenehmen Lebensabend. Seine Geschichte erzählt er allen Kindern und Reisenden so oft, bis sie schließlich landein, landaus bekannt ist, und obwohl, so der Erzähler, einige böse Stimmen behaupten, er sei nicht recht bei Verstand gewesen, so zweifelten doch mindestens die niederländischen Siedler nie an ihrer Wahrheit.

Entstehungs- und Werkszusammenhang

Rip Van Winkle ist Teil des „Skizzenbuchs“ (The Sketch Book of Geoffrey Crayon, Gent.), das Irving 1818-19 in England verfasste. 1815 war er nach Liverpool gekommen, um seinem Bruder bei der Leitung der englischen Filiale des irvingschen Familienunternehmens zur Hand zu gehen, doch konnte er den Niedergang und schließlich den Bankrott des Unternehmens im Jahr 1818 nicht abwenden. Nach diesen ernüchternden Jahren sah sich Irving in einem fremden Land auf sich selbst gestellt, verfiel in Depressionen und fasste schließlich den Entschluss, die Literatur zum Broterwerb zu machen. Rip Van Winkle entstand einer Familienanekdote zufolge im Juni 1818, als Irving bei seiner Schwester Sarah Van Wart in Birmingham weilte. Mit seinem Schwager Henry Van Wart schwelgte er eines Abends in Erinnerungen an glückliche Jugendtage in der ländlichen Idylle des Hudson-Tals, wohin seine Eltern ihn 1798 verschickt hatten, als in New York eine Gelbfieberepidemie ausbrach. Plötzlich sei er aufgesprungen, habe sich in sein Zimmer begeben und bis zum Morgengrauen geschrieben, um dann, Manuskript in Händen, frohen Mutes am Frühstückstisch zu erscheinen und seinen Gastgebern die Geschichte vorzulesen.

Die Texte des Sketch Book erschienen in Amerika zunächst über einen Zeitraum von rund anderthalb Jahren in sieben Einzelheften, in Buchform erstmals 1820 in zwei Bänden in England. Rip van Winkle erschien als vierte und letzte „Skizze“ des ersten amerikanischen Hefts (als fünfte, wenn man die vorangestellte Vorstellung des Autors hinzuzählt) vom Mai 1819. Sie war die erste, deren Schauplatz nicht Europa, sondern Irvings Heimat New York ist. Rip Van Winkle kann so als Ehrerbietung gegenüber seinem New Yorker Publikum gelesen werden. Einen autobiografischen Zusammenhang legt der Umstand nahe, dass die Protagonisten der beiden vorangehenden Skizzen, The Wife und Roscoe, ebenso wie Rip Van Winkle von finanziellem Ruin und Verarmung bedroht sind - im Fall von Rip Van Winkle ist dabei augenfällig, dass dieser letztlich nicht nur dieser Notlage entrinnt, sondern am Ende der Geschichte auch als Geschichtenerzähler bekannt und geehrt wird.

Die Geschichte ist in eine komplexe Herausgeberfiktion eingebettet: Irving veröffentlichte bis zu seiner Kolumbusbiografie 1828 stets unter verschiedenen Pseudonymen, auch wenn seine Autorschaft stets bekannt war. Erzähler und vorgeblicher Autor des Sketch Book ist ein gewisser Geoffrey Crayon, ein amerikanischer Gent (Gentleman) auf Reisen in Europa. Der Rip Van Winkle wird hingegen als in die Skizzen Crayons eingeflossenes Werk aus dem Nachlass des Historikers Diedrich Knickerbocker präsentiert. Diese Persona hatte Irving 1807 als Erzähler seiner 1807 erschienenen satirischen Geschichte New Yorks vom Beginn der Welt bis zum Ende der holländischen Dynastie vorgeschoben: Knickerbocker sei demnach eines Tages spurlos verschwunden; sein Vermieter habe die in seinem Nachlass gefundenen Papiere veröffentlicht, um mit den Erlösen die Ausstände Knickerbockers zu begleichen. Im Sketch Book erscheint Rip Van Winkle eingerahmt von einer Vorrede, einem Appendix und einem Postskriptum des Erzählers Geoffrey Crayon - eine Parodie der Art von kritischem Apparat, wie sie etwa die Gebrüder Grimm ihren Märchen voranstellten. Crayon bürgt darin für die Verlässlichkeit seines Gewährsmanns Knickerbocker: „Sein Hauptverdienst ist seine gewissenhafte Treue, die man in der That bei seinem ersten Erscheinen etwas bezweifeln wollte, die aber seitdem vollständig hergestellt worden ist; man hat es gegenwärtig in allen historischen Sammlungen als ein Werk von unverdächtiger Glaubwürdigkeit aufgenommen.“ Die Wahrheit der Geschichte wird nochmals im Postskriptum unterstrichen, in dem eine beigefügte Bemerkung Knickerbockers zitiert wird. Knickerbocker behauptete darin, Rip Van Winkle nicht nur persönlich getroffen zu haben, sondern er habe „sogar eine Beglaubigungsschrift über den Gegenstand gesehen, die von einem Dorfrichter aufgenommen und mit einem Kreuz, in des Richters eigener Handschrift, unterzeichnet war. Die Geschichte ist also über jeden möglichen Zweifel erhaben.“

Besondere Bedeutung hat Rip Van Winkle für die Gattungstheorie: Ungeachtet der Tatsache, dass es fiktionale Kurzprosa auch vor Irving gab und eine Definition des Wesens der short story (Kurzgeschichte) - unterschieden etwa von der Anekdote, dem Märchen oder Novelle - in der Literaturwissenschaft bis heute offen diskutiert wird, gilt Irving mit Rip Van Winkle als „Urtext“ gemeinhin als „Erfinder“ der Kurzgeschichte (short story), einer Gattung, die anders als in der deutschen oder auch englischen besonders in der amerikanischen Literatur große Geltung erlangt hat. Während die anderen Skizzen des Sketch Book kaum narrativ und zumeist auch nicht fiktional angelegt sind und so eher dem Essay oder auch der Reiseliteratur nahestehen, bildet Rip Van Winkle eine in sich geschlossene Handlung ab. Dies gilt ebenso für die „Skizzen“ The Legend of Sleepy Hollow und das heute kaum noch gelesen Stück The Spectre Bridegroom, die in späteren Nummern der in den USA erscheinenden Heftserie erschienen. Die Bezeichnung als short story erfolgte nachträglich; Irving selbst bezeichnete seine Kurzprosastücke als sketches & short tales.[6]

Quellen

In einem Nachwort zu der Geschichte deutet Irving über seinen Erzähler an, ihm habe die Kyffhäusersage vom schlafenden Friedrich Barbarossa beim Verfassen des Rip Van Winkle Modell gestanden. Schon bald nach dem Erscheinen des Sketch Book wurden jedoch Vorwürfe gegen Irving erhoben, er habe seine wahren Quellen nicht dargelegt und sich des Plagiats schuldig gemacht, so dass er sich in Bracebridge Hall (1824) zu einer Verteidigung angehalten sah. Tatsächlich gilt heute als gesichert, dass das unmittelbare Vorbild für den Rip Van Winkle die ebenfalls vom Kyffhäuser stammende Sage vom Ziegenhirten Peter Klaus ist, die Johan Carl Christoph Nachtigal unter dem Pseudonym Otmar 1800 erstmals in seiner Sammlung von Volcks-Sagen aus dem Harz veröffentlichte. Vermutlich lernte Irving diese Sage über Büschings Volks-Sagen, Märchen und Legenden (1812) kennen. Dass Irving die beiden Sagen verwechselte, mag daran liegen, dass sie in Büschings Sammlung in einem Kapitel („Sagen und Mährchen vom Harz“) vereinigt sind und auch in einem thematischen Zusammenhang stehen. Einige Passagen von Irvings Erzählung sind tatsächlich kaum mehr als Übersetzungen von Otmars Vorlage, so dass mindestens Stanley T. Williams in seiner Irving-Biografie (1935) die Klage erneuerte, Irving habe „geklaut.“ Tatsächlich hat Rip Van Winkle jedoch nicht nur den vierfachen Umfang seines Vorbilds, sondern enthält auch signifikante Änderungen und Erweiterungen, insbesondere die Verlegung des Schauplatzes nach New York und die Einbettung der Handlung in einen spezifischen historischen Kontext.

Das zentrale Motiv vom Zauberschlaf findet sich in zahlreichen Sagen und Märchen aus den verschiedensten Kulturkreisen. Im Aarne-Thompson-Index, der für die Erzählforschung maßgeblichen Klassifizierung von Märchenstoffen, wird das Motiv vom Zauberschlaf unter der Sigle AaTh 766 („Siebenschläfer“) geführt. Die weite Verbreitung des Motivs hat dazu geführt, dass sich in der Literatur häufig noch andere Angaben zu Irvings mutmaßlichen Quellen finden. Als sich der niederländische Historiker Tiemen De Vries in einer Vortragsreihe 1912 über Irvings Darstellung der Niederländer als faul und simpel ereiferte, behauptete er auch fälschlich, dass sich Irving für den Rip Van Winkle bei Erasmus von Rotterdam bedient habe, der in einer seiner Schriften die alte griechische Sage von Epimenides ausgeführt hatte, der 57 Jahre in der Diktäischen Höhle geschlafen haben soll. Eine wahrscheinlichere weitere direkte Quelle ist die schottische Sage vom Thomas the Rhymer, in der der Sterbliche Thomas von der Königin der Elfen zu einem Fest geladen wird und nach dessen Ende feststellt, dass in der Zwischenzeit sieben Jahre verstrichen sind. Diese Sage - bis heute in Form einer Ballade recht bekannt - erwähnte Irving in einem Brief an seinen Bruder Peter, den er 1817 nach seinem Besuch bei Walter Scott schrieb.

Auch das verwandte Motiv der Bergentrückung, wie es sich in der Kyffhäusersage vom verzauberten Friedrich Barbarossa findet, klingt durchaus in Rip Van Winkle an: So wie Barbarossas Schlaf mit der Hoffnung auf die Erneuerung der Reichsherrlichkeit geknüpft ist, so wacht ein zu mythischer Statur gewachsener Henry Hudson über die Entwicklung New Yorks. Wie in der deutschen Sage über dem Kyffhäuser fliegen auch über Irvings Kaatskill-Bergen Raben, und auch Rip Van Winkles Bart wächst während seines Zauberschlafs zu erstaunlicher Länge. Irving kannte das Motiv der Bergentrückung jedoch nicht nur im Zusammenhang mit der Kyffhäusersage. In seinem Notizbuch hielt er 1818 seine Eindrücke der Lektüre der Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland von Johann Kaspar Riesbeck fest und notierte dabei insbesondere fast wortgetreu Passagen aus dem 14. Brief über Salzburg und Umgebung, darunter den Verweis auf die Sage, dass Karl der Große mit seinem Heer im Watzmann auf seine Auferstehung warte, sowie eine Notiz über „Zauberer, deren weiße Bärte zehn oder zwanzig Mal um den Tisch gewachsen sind, auf dem sie schlafen, und tausendjährige Einsiedler, die Gemsenjäger durch unterirdische Gänge geführt und ihnen Märchenpaläste voll Gold und Edelsteinen gezeigt haben.“ Auch andere klassische Sagenmotive finden sich in Rip Van Winkle. So lässt Rips Rückkehr an die Wiederkunft des Odysseus in Ithaka denken: Während der Held der Odyssee allein von seinem Hund Argos wiedererkannt wird, so wird Rip bei seiner Rückkehr selbst von seinem einst treuen Hund Wolf angeknurrt.

Stimmung, Themen und Motive

Romantische Schwelgerei

Das Motivs des Zauberschlafs ist, wie oben ausgeführt, über Nachtigals Vermittlung einem deutschen Märchen entlehnt und spiegelt Irvings Beschäftigung mit der Literatur der deutschen Romantik wider, die in diesen Jahren in England wie in den USA intensiv rezipiert wurde. Waren Irvings frühe Werke wie die Satiren in Salmagundi und die History of New York an den englischen Neoklassizisten (Joseph Addison, Laurence Sterne, Jonathan Swift) geschult, so markiert das Sketch Book seine Hinwendung zu einer romantischen Denkungsart. Nach seiner Ankunft in Europa 1815 machte besonders die Freundschaft zu Sir Walter Scott einen großen Eindruck auf ihn, und um 1818 begann er - wie es Scott einige Jahre vor ihm getan hatte - deutsch zu lernen und beschäftigte sich mit Sagen und Märchen. Das „volkstümliche“ Sujet des Rip van Winkle zeigt den Effekt dieser Lektüre: Anders als seine vorigen Werke ist die Geschichte nicht in der Stadt angesiedelt,sondern in einem mit zahlreichen pittoresken Details ausgeschmückten ländlichen Idyll.

Die Natur der Kaatskill-Berge wird nicht nur zum romantischen Sehnsuchtsort verklärt, sondern auch mit in die Vergangenheit weisenden Sagen versehen. Wie zahlreiche amerikanische Schriftsteller vor und nach ihm beklagte Irving, dass die Neue Welt keine altehrwürdige Geschichte biete, die sich literarisch bearbeiten ließe. Um der romantisch-nostalgischen Schwärmerei für vergangene Welten auch in seiner Heimat nicht verzichten zumüssen, dichtete Irving nun - an seine History of New York anknüpfend - den Siedlern der niederländischen Kolonialzeit eine entsprechende Folklore an; in geringerem Maße flicht er auch angebliche indianische Mythen über die Kaatskills in die Geschichte ein. 1843 schrieb er: „Als ich das erste Mal über die Legende des Rip Van Winkle schrieb, hatte ich schon einige Zeit daran gedacht, einigen interessanten Orten in der Landschaft unserer Nation ein wenig Farbe und Tradition zu verleihen.“

Politisches

Die „Amerikanisierung“ des Sagenstoffs leistet Irving zum einen durch die Lokalisierung in New York, zum anderen aber auch durch die Einbettung in einen spezifischen historischen Kontext. Rip verschläft die amerikanische Revolution und wird unversehens aus der Zeit der Monarchie in die Wirren der jungen Republik geworfen. Symbolisch wird dieser Bruch bei Rips Erwachen angedeutet: Statt der Raben, die zuvor über den Bergen flogen - eine deutliche Anleihe an die Kyffhäusersage - kreist nun ein Adler, das Wappentier der Vereinigten Staaten, über den Kaatskills. Irving nimmt zwar in den folgenden Geschehnissen keinen expliziten Systemvergleich vor, doch lässt seine Beschreibung von Rips Rückkehr eine sehr zwiespältige Haltung zum Erbe der Revolution erkennen: „Selbst der Charakter des Volkes schien verändert. Es war da umher ein geschäftiges, unruhiges, streitsüchtiges Wesen, statt des gewohnten Phlegmas und der schläfrigen Friedseligkeit.“ Die heimeligen Zusammenkünfte unter dem schattenspendenden Baum der Dorfschänke sind aufgeregten politischen Debatten gewichen, ein „magerer, gallsüchtig aussehender Bursche“ hält eine politische Rede, und von der aufgebrachten Menge wird Rip gefragt, „ob er ein Föderalist oder ein Demokrat sei“ und später verdächtigt, ein Tory, also ein königstreuer Loyalist und somit ein Vaterlandsverräter und Spion zu sein. Irving zeigt so die tiefen Gräben auf, die das republikanische Parteiensystem, konkret der in den 1790er Jahren besonders erbitterte Konflikt zwischen der Föderalistischen und der Antiföderalistischen Partei, zwischen den Bewohnern der einst so harmonischen Dorfgemeinschaft gerissen haben. Irving selbst hatte in dieser Auseinandersetzung in seinen frühen Satiren zunächst eine dritte Partei, die Anhänger Aaron Burrs, unterstützt. Nach deren Auflösung nahm er kaum noch politisch Stellung, doch wird in seiner Beschreibung des Wahltags in Rip Van Winkle das Misstrauen deutlich, mit dem er radikaldemokratischen Bestrebungen gegenüberstand, und die nach 1800 mit der Präsidentschaft Thomas Jeffersons die Überhand gegenüber den Föderalisten gewannen.

In Irvings Erzählung schlägt sich neben dem politischen auch der regionale Konflikt zwischen New Yorkern und Neuengländern nieder, die sich mit der Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 nun in einem Staatswesen miteinander arrangieren mussten. Das „Union Hotel,“ das sich nunmehr an der Stelle der ehemaligen Dorfschänke befindet, wird etwa von einem Jonathan Doolittle geführt - ein stereotypischer Name für einen Yankee, also einen Neuengländer mit allen ihm zugeschriebenen Eigenschaften, in den Augen Irvings wie vieler anderer New Yorker Literaten vor und nach ihm also insbesondere Gewinnsucht und Hartherzigkeit. Es wird sinnfällig als „großes, schiefes, hölzernes Gebäude“ beschrieben, „mit großen weiten Fenstern, von denen einige zerbrochen und mit alten Hüten und Unterröcken verstopft waren.“ Selbst die Schuld an Dame Van Winkles Tod wird einem Yankee angelastet: „Sie zersprengte sich ein Blutgefäß, bei einem Anfall von Zorn über einen Hausierer aus Neu-England.“

Persönliches

Da Irvings Kurzgeschichten neben James Fenimore Coopers Romanen den Beginn einer eigenständigen amerikanischen Literatur markieren, haben sie auch in den klassischen Texten der Amerikanistik einige Beachtung gefunden, die gerade aus Spezifika der amerikanischen Literatur Schlüsse auf den „Nationalcharakter“ zu ziehen bemüht war. So sah Lewis Mumford die ungeheure Popularität der Geschichte darin begründet, dass Rip einen bodenständigen, wenn nicht desillusionierten Gegenentwurf zu den ebenso populären Geschichten von Frontier-Helden wie Paul Bunyan bot: Gerade weil Rip faul, nichtsnutzig und unfähig ist, sich fortzuentwickeln, spiegelte er die Erfahrung einer ganzen Generation wider, für die sich die Hoffnungen auf Abenteuer und Reichtum als illusionär erwiesen hatten. So stellt sich Rips Los auch nur auf den ersten Blick als glücklich dar: Zwar verbringt er einen beschaulichen Lebensabend, ist jedoch zugleich ein lebender Anachronismus. Das „beste Mannesalter“ hat er nicht erlebt, und so bleibt er auch als alter Mann im Grunde ein Kind, zahlt also (so der Literaturwissenschaftler Donald A. Ringe) einen „furchtbaren Preis.“ Dass Rips Geschichte vor allem furchtbar ist, legt auch eine Lesart nahe, die in seinem Namen eine Anspielung auf die Grabinschrift Rest in Peace („Ruhe in Frieden“) sieht.

Leslie Fiedler sah in Rip Van Winkle das Grundmotiv angelegt, das seinem einflussreichen Werk Love and Death in the American Novel (1957) zufolge die gesamte amerikanische Literaturgeschichte prägt: die Flucht des männlichen Protagonisten vor Verantwortung, dem Erwachsenwerden, der Ehe, mithin der gesamten Zivilisation. Dabei sei die eskapististische Fantasie von der Flucht in die Wildnis, wie sie sich in Coopers Lederstrumpf-Romanen darstellt, zwar noch nicht voll entfaltet, da Irving Rip schließlich in sein Dorf zurückkkehren lässt, doch ist die frauenfeindliche Komponente dieses mutmaßlichen amerikanischen Mythos bereits vorhanden: indem Irving Rip als Flüchtling vor der Tyrrannei des Weibsvolks zeichnet, entwirft er eine „komische Umkehrung der [europäischen] Legende von der bedrängten Jungfer – eine entsprechende männliche Verfolgungsfantasie.“ Fiedlers Interpretation ist seither besonders in der feministischen Literaturtheorie aufgegriffen worden. So begann etwa Judith Fetterley ihr Buch The Resisting Reader (1978), ein frühes Werk der feministischen Kanonkritik, mit einer Besprechung von Rip Van Winkle. Fetterley sieht Dame van Winkle als Sündenbock, Feind, als „das Andere“ gezeichnet, auch als Verkörperung der Restriktionen, die die „Zivilisierung“ mit sich bringt - sie sieht in ihr sogar die sadistische Big Nurse aus Ken Keseys Einer flog über das Kuckucksnest vorgebildet. Fetterley folgert, dass schon aus dieser ersten amerikanischen Kurzgeschichte der weibliche Leser ausgeschlossen werde, Dame Van Winkle bleibt namenlos, kaum mehr als eine Karikatur, die gewiss nicht zur Identifikation einlädt. Gerade ihre eigentlich lobenswerten Eigenschaften - dass sie, von ihrem nichtsnutzigen Gatten im Stich gelassen, allein den Hof in Ordnung hält und die Kinder aufzieht - wird ihr als weibische Herrschsucht angelastet; alle Sympathien werden ohne eine andere qualifizierte Rechtfertigung auf den inkompetenten und faulen männlichen Protagonisten gelenkt.

Rezeption und Adaptionen

Das Sketch Book fand in England wie Amerika großen Absatz, doch wurde - neben den Weihnachtskizzen - gerade Rip van Winkle oftmals auch als Einzeldruck aufgelegt, vielfach anthologisiert, auch als Kinderbuch vertrieben und schon bald als Schullektüre kanonisiert. Wie nur wenige andere literarische Figuren ist Rip Van Winkle schließlich in die amerikanische Folklore eingegangen und ist wegen seiner weiten Bekanntheit und seines Wiedererkennungswert vielfach in Hoch- wie Populärkultur refererenziert und auch parodiert worden.

Theater, Kino, Fernsehen

Eine besondere Rolle bei der Popularisierung des Stoffes in den USA spielte das Theater. Die Aufführung einer ersten Bühnenadaption in Albany bezeugt. Bis 1866 war Rip Van Winkle bereits mindestens in vier Adaptionen auf die Bühne gebracht worden, 1855 in New York sogar als Oper. 1866 wurde dann eine von Dion Boucicault bearbeitete Version in London uraufgeführt, die mit dem Schauspieler Joseph Jefferson in der Hauptrolle eines der erfolgreichsten Theaterstücke des 19. Jahrhunderts werden sollte. Boucicault fügte der Geschichte einen weiteren Plot hinzu, in dem Rip sich eines Gegenspielers - seines arglistigen Schwiegersohns - erwehren muss. Das Stück erlebte allein in London 170 Abende, bis Jefferson es 1866 nach New York brachte. In den nächsten 15 Jahren unternahm Jefferson mit seiner Kompanie jährlich ausgedehnte Tourneen durch die Städte auch des amerikanischen Hinterlandes, wurde so einem Massenpublikum bekannt und schließlich der wohl berühmteste amerikanische Schauspieler seiner Zeit. Zwar versuchte Jefferson sich ab 1880 auch wieder in anderen Rollen, doch identifizierte ihn das Publikum so sehr mit seiner Rolle, dass er bis zu seinem Lebensende noch hunderte Male den Rip Van Winkle gab. Constance Rourke führte den Erfolg des Stückes darauf zurück, dass es mit seiner Dramatisierung des plötzlichen Wandels und einer verlorenen Welt die Erfahrung vieler Amerikaner in der bewegten Zeit nach dem amerikanischem Bürgerkrieg (des Gilded Age) widerspiegelte. Dass die Popularität des Stücks aber vor allem Jeffersons Darbietung geschuldet war, zeigt auch, dass es nach seinem Tod 1905 rasch von den Spielplänen verschwand.

Jeffersons Darbietung hielt William K. L. Dickson ab 1896 in mehreren kurzen Stummfilmen seiner American Mutoscope and Biograph Company fest; 1903 wurden die insgesamt acht Szenen zu einem Ganzen zusammengefügt. Dicksons Rip Van Winkle wurde 1995 von der Library of Congress als besonders erhaltenswert eingestuft und in das National Film Registry aufgenommen. In der Stummfilmära entstand eine Reihe weiterer Verfilmungen. Seither ist die Figur des Rip Van Winkle auch in verschiedenen Zeichentrickserien aufgetaucht, so traf er 1941 auf Popeye, und 1965 schlüpfte Mr. Magoo in seine Rolle.

Literatur

Unter den lyrischen Nachdichtungen und Bearbeitungen der Erzählung sind Edmund C. Stedmans Rip Van Winkle and His Wonderful Nap, Oliver Wendell Holmes' Rip Van Winkle (1870) und Herman Melvilles Rip Van Winkle's Lilac (undatiert, erstmals postum erschienen in Weeds and Wildings, 1924) zu nennen. Ein Buch von Hart Cranes The Bridge (1930), eines der großen Gedichte der amerikanischen Moderne, ist ebenfalls Rip Van Winkle betitelt. Anspielungen auf Motive aus der Erzählung finden sich in so unterschiedlichen Werken wie James Joyces Ulysses, Willa Cathers My Antonia und Dylan Thomas' Alterwise By Owl-Light. Autoren postmoderner Literatur haben Rip Van Winkle als Chiffre für den rasanten Wandel der Lebenswelt in den vergangenen Jahrzehnten verwendet, so etwa Robert Coover in seinem Einakter Rip Awake (1972); Thomas Pynchons Roman Vineland (1989) beginnt mit gleichfalls mit einer Paraphrase von Rip Van Winkle: dem Erwachen eines Althippies im Kalifornien des Jahres 1984, der dann feststellen muss, dass seine Stammkneipe in eine Yuppie-Designerbar umgestaltet worden ist.

Zwar ist Geschichten vom Zauberschlaf weltweit in zahlreichen Versionen verbreitet, doch ist der Rip Van Winkle zumindest in den USA das bei weitem bekannteste Vorkommnis des Motivs und Teil der amerikanischen Folklore geworden, so dass zahlreiche spätere Werke direkt von Irving beeeinflusst sein mögen. Dies gilt etwa für den 1928 erschienenen Science-Fiction-Comic Buck Rogers, dessen Protagonist nach einem 500jährigem Schlaf im 25. Jahrhundert aufwacht, oder etwa auch für den Filmklassiker Planet der Affen.

Noch in den 1820er Jahren wurde das Sketch Book in mehrere europäische Sprachen übersetzt und die Geschichte von Rip Van Winkle so auch international bekannt. Die erste deutsche Übersetzung erschien bereits 1819 in Leipzig und ist gezeichnet von der in diesem Jahr mit den Karlsbader Beschlüssen erlassenen Zensur. Der anonyme Übersetzer änderte die Geschichte jedoch teils erheblich ab und unterstrich insbesondere die bei Irving in der Tendenz schon vorhandene Darstellung unerfreulicher Seiten einer republikanischen Gesellschaftordnung gegenüber der trauten Harmonie in der Monarchie. Unter den amerikanischen Schriftstellern übte Irving im 19. Jahrhundert beträchtlichen Einfluss auch auf deutsche Schriftsteller aus; explizite Anleihen bei Rip Van Winkle finden sich etwa in Wilhelm Hauffs Phantasien im Bremer Ratskeller (1827), Wilhelm Raabes Abu Telfan (1868) und in Ferdinand Freiligraths Im Teutoburger Walde (1869).

Im 20. Jahrhundert ist die Bearbeitung des Stoffs durch den Schweizer Schriftsteller Max Frisch im Hörspiel Rip Van Winkle (1953) und dem daraus entstandenen Roman Stiller (1954) hervorzuheben: Der Protagonist des Romans erzählt seinem Verteidiger das „Märchen von Rip van Winkle“, das er „vor Jahrzehnten […] in einem Buch von Sven Hedin“ gelesen zu haben glaubt. Für Frischs Roman ist das Thema von Trennung und Wiederkehr und die Auseinandersetzung der Rückkehrer mit der ihnen zugeschriebenen Identität von zentraler Bedeutung.


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