Herzog
Der Roman Herzog (1964) ist das Hauptwerk von Saul Bellow und beschreibt die Orientierungskrise des jüdischen Literaturwissenschaftlers Moses Herzog aus Chicago, der sowohl zwischen verschiedenen Frauen als auch verschiedenen Ideologien steht.
Inhalt
Der Literaturwissenschaftler Moses Herzog gerät in eine tiefe Persönlichkeitskrise: Nach der Ehe mit Daisy, mit der er zwei halbwüchsige Kinder hat, scheitert auch die Ehe mit Madeleine, mit der er eine kleine Tochter hat. Madeleine betrügt ihn mit seinem früher besten Freund Valentine Gersbach , dem er aufgrund seiner Beziehungen noch eine gute Stellung beim Rundfunk in Chicago verschafft hatte. Madeleine zuliebe gibt Herzog seine Universitäts-Laufbahn auf und zieht mit ihr für ein wissenschaftliches Projekt ein Jahr aufs Land. Wegen wachsender Konflikte zwischen ihnen gehen beide wieder in die Stadt zurück, wo er nun Vorlesungen an einer Volkshochschule hält. Madeleine trennt sich von ihm und setzt ihre Liebesaffaire mit seinem besten Freund fort, Herzog macht mit seinem Bruder eine Europareise, von der er aber labiler als vorher zurückkehrt. Mehr und mehr hat er das Gefühl, dass er „entzweiging - auseinanderbrach“: seine Vorlesungen werden verworren und er wird sonderlich.
Seine Selbsterforschung und seine Rechtfertigungen treiben ihn zu ersten Notizen, die sich allmählich zu Briefen an Freunde, Bekannte, andere lebende und tote Schriftsteller und zuletzt auch: Nietzsche und Gott, auswachsen. In diesen Briefen nimmt Herzog nicht nur zu seinen privaten Anliegen sondern auch zu sozialen (Armut, Landverteilung) und politischen Entwicklungen (Kalter Krieg) kritisch Stellung und erweist sich als linker Liberaler, dem auch der Marxismus nicht fremd ist: Er selbst könne sich mit einschließen, wenn er von den „Millionen verbitterter Voltairianer“ schreibe, deren Seelen mit zorniger Satire angefüllt seien.
Nach den langen Schilderungen der Eskalation zwischen Madeleine und Herzog reflektiert er über seine japanische Freundin Sono und über seine neue Partnerin, Ramona, die besser als er selbst seine Bindungsängste und die Bedeutung seiner sich von ihm distanzierenden Frau (Madeleine) erkennen. Schließlich reist er wieder in sein Landhaus, in dem er mit Madeleine gelebt hat, um seinem Sohn aus erster Ehe nahe zu sein, der ein Sommercamp besucht. Auf diesen letzten Seiten gibt es mehr und mehr Hinweise auf eine Besserung seines Zustands, das Aufscheinen von Gelassenheit und Freude über neu empfundene sinnliche Eindrücke der Natur.
Erzählweise
Die lockere, vor- und zurückgreifende Assoziation der Szenen löst die Zeitstruktur der Handlung bald auf. Statt einer linearen Abfolge entsteht ein Mosaik der Erinnerung, das nach und nach das vertieft und ausleuchtet, was am Anfang bald schon beschrieben ist: Madeleines Konvertierung vom Judentum zum Katholizismus, das Leben im Sommerhaus mit Madeleine, die wachsenden Konflikte zwischen ihnen, Herzogs zunehmende Arbeitsunfähigkeit, ihre Affaire mit seinem Freund, die Trennung, seine neue Freundin Ramona...
Die Erzählung wird so zu einer Figur der kreisförmigen Vertiefung seiner Realitätswahrnehmung: Moses Herzog beschreibt seine Antagonisten und auch seinen Vater als „Dozenten der Realität“, die ihn nach und nach in seiner Reflexionsarbeit an die Realität heranführen. Er nähert sich allmählich dem, was er immer schon geahnt hatte: Mit seinen Briefen ist Moses „auf der Spur von Dingen, die er erst jetzt und nur undeutlich zu begreifen begann.“
Die plötzliche Wendung zum Besseren gegen Ende des Buches („Wie herrlich schön ist es heute!“) ist wenig nachvollziehbar und weder in der Figur noch in ihren Umständen angelegt. Der erste Satz des Romans („Wenn ich den Verstand verloren habe, soll´s mir recht sein, dachte Moses Herzog.“) leitet den Leidensweg ein - und steht aber auch am Beginn jener nachhaltigen Stimmungsverbesserung des Ausklangs. Die Verrücktheit verliert sich also "irgendwie" aus Herzogs Leben und trotz fortbestehender äußerer Unaufgeräumtheit scheinen Gesundung, Glück und Seelenfrieden als Folge einer langen Erinnerungs- und Rechtfertigungsarbeit möglich: „So fing die letzte Woche seiner Briefe an.“
Es gibt einen großen Unterschied zwischen aufregend geschriebenen Passagen und einer Form- und Perspektivlosigkeit des Ganzen, einer Abwesenheit von Entwicklung und häufigen Unterbrechung der Erzählung durch die vielen Notizen und Briefe, die wie Hindernisse mühsam zu übersteigen sind. Der Eindruck der Unordnung in Herzogs Leben wird erzählerisch durch diese Ornamentik der Romanstruktur verstärkt.
Anmerkungen zum Stil
Der Roman zeigt einen Reichtum an rhetorischen Formen, die auch ein uferloses Erinnerungsmosaik lesenswert machen: Ganze Passagen sind ironisch und selbstironisch geschrieben; er häuft Attribute als Asyndeton, verstößt mit Satzbrüchen gegen Lesererwartungen, usw.
Der Roman bietet weiterhin eine überraschende Vielfalt an Figurencharakteristiken, die in vielen Dialogszenen (im Gespräch mit seinem Anwalt Simkin, einer früheren Schwiegermutter, mit einem Taxifahrer, beim Zuhören vor Gericht) wie en passant entwickelt werden. Bellow schöpft aus der sprudelnden Quelle seiner scharfen Beobachtung und seiner Fähigkeit zu interessanten Darstellungen von Personen, Stimmungen, Dialogen. Immer wieder trifft der Leser auf erfrischende Exkurse, die wie kleine Geschichten für sich stehen könnten und Bellows überbordende Gestaltungsfreude zeigen.
Experimentell ist auch das Schwanken der Erzählhaltung: Der meist personale Er-Erzähler steht der Hauptfigur sehr nahe (er berichtet von Herzogs Überlegungen, seinen Gefühlen und seiner Wahrnehmung anderer Figuren), ist aber nicht identisch mit ihm (der Erzähler gibt Rückblicke und erklärt); der Erzähler hat Humor und steht auf Seiten Herzogs, ist aber kein Besserwisser. Seine Ironie und Selbstironie scheinen irgendwo zwischen dem Erzähler und der Hauptfigur zu entspringen. Manchmal spricht der Er-Erzähler aber auch direkt die Hauptfigur an, wird ein Du-Erzähler, der mit seinem alter ego dialogisiert - aber beim Schreiben der Briefe (Ich-Form) wechselt der Er-Erzähler nach oder vor den kursiv gesetzten Brieftexten gelegentlich auch zu einem Ich-Erzähler - Moses Herzog ist also sowohl außer sich als auch neben sich und manchmal auch er selbst. Diese Erzähler-Wechsel sind der vielleicht wichtigste formale Hinweis auf die schwankende, sich selbst fremde Identität der Hauptfigur und auf seine Mühe, sich zu vergewissern, wer er eigentlich sei: Diese Erzählweise ist Teil der Botschaft.
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