Die Wörter

Aus Weltliteratur

Die Wörter, frz. Les mots, ist eine 1964 erschienene autobiografische Schrift von Jean-Paul Sartre über seine ersten zehn Lebensjahre in der Zeit von 1905 bis etwa 1915, dem Jahr seiner Einschulung in das elitäre Gymnasium Lycée Henri IV.

Inhalt

Nach einer kurzen, etwa 1850 einsetzenden Rückschau auf die Familiengeschichten der Schweitzers (Albert Schweitzer war ein Großcousin von ihm) und Sartres beginnt der kleine Jean-Paul sein vaterloses Leben unter dem Zepter seines tyrannenhaften elsässischen Großvaters Charles Schweitzer, der nach dem frühen Tod von Jean-Pauls Vater die Rolle des „pater familias“ okkupiert. Der Tod des Vaters „wurde das große Ereignis meines Lebens: er legte meine Mutter in Ketten und gab mir die Freiheit...Ich mußte also nicht im Schatten eines Vaterbildes aufwachsen." In dieser großväterlich dominierten Familie schlafen der kleine Jean-Paul und seine Mutter, die „Kinder“ der Familie, in einem Raum, während die Großmutter und vor allem der Großvater zusammen den eingedeutschten kindlichen Götternamen „Karlundmami“ tragen. Jean Paul lebt eingeschlossen und einsam, er hat keinerlei Freunde: „Bis zum Alter von zehn Jahren blieb ich allein zwischen einem Greis und zwei Frauen. [...] ich war ein Kind, ein Monstrum, das sie mit Hilfe ihrer eigenen Sorgen fabrizierten.“

Der Großvater ist ein promovierter Deutschlehrer mit einem gut laufenden eigenen Sprachinstitut in Paris. Während ihn seine eigenen Kinder langweilen, himmelt er seinen Enkel auf maßlose, im Grunde eigennützige, Weise an und baut die Familie für den kleinen Jean-Paul wie ein Paradies. Jean-Paul lernt seine „Rolle“ als Geschenk an den Großvater zu spielen, er ist klug und (noch) hübsch, ein überfördertes Kind, das sich unter dem Druck der Familie in verschiedenen Eindrucksrollen übt: der des Frühreifen, des Angepassten, des kleinen Verseschmieds, des Schauspielers und des Autors von Abenteuergeschichtchen.

In dieser ihn von allen anderen Kontakten abschneidenden Familieninsel erlebt er seine permanente Berufung zum „Wunderkind“: „Es genügt, dass ich eine Tür aufmache, um selbst das Gefühl zu haben, ich vollzöge eine ‚Erscheinung’.“ Da der kleine „Poulou“ im Arbeitszimmer seines Großvaters auf Berge von Büchern trifft, erscheint ihm deren Handhabung wie eine heilige Handlung: „Ich hatte meine Religion gefunden; nichts erschien mir wichtiger als ein Buch; die Bibliothek sah ich als Tempel.“ Nun gewinnt seine frühe Berufung an Bestimmtheit und an Fahrt: „Schon früh wurde ich darauf vorbereitet, die Professur wie ein Priestertum und die Literatur wie eine Leidenschaft zu behandeln.“

Jean-Paul bringt sich selbst das Lesen bei und arbeitet sich ab an den so schwierigen Wörtern wie „Idiosynkrasie“, „Geliebte“ und an vielen anderen. Er kämpft mit Wörtern, mit Sätzen und mit merkwürdigen Zusammenhängen: Eine Romanfigur „fand Briefe, war das ein Grund, sich nicht mehr zu rasieren?“ „Auf alle Fälle bearbeitete mein Blick die Wörter: man musste versuchen, ihren Sinn zu bestimmen; mit der Zeit wurde ich durch diese Kulturkomödie kultiviert“ – eine Komödie, die ihm die Aufmerksamkeit der Familie sichert, ihn aber sich selbst entfremdet.

Der kleine Sartre liest bald schon Corneille, Flaubert, Victor Hugo: „Ich lebte über mein Alter, wie man über seine Verhältnisse lebt.“ Viel lieber aber las Poulou unter dem Tisch im Esszimmer Magazine und Abenteuerromane – und der alte Sartre gesteht: „Es hat niemals aufgehört: auch heute lese ich lieber Kriminalromane als Wittgenstein.“

Wieder angestoßen von seinem Großvater, beginnt Jean-Paul in eine Kladde erste Geschichten zu schreiben, in denen er zunächst Bekanntes nacherzählt und dann allmählich Figuren erschafft, die seine Einsamkeit sowohl spiegeln als auch verringern. Der Großvater, der seinen Enkel aber nicht als Schriftsteller verhungern, sondern lieber als Literaturprofessor Meriten sammeln sehen will, bestärkt paradoxerweise durch seine vorsichtigen Hinweise Jean-Pauls Berufswunsch.

Sartre, der sein kindliches Lebensgefühl im Rückblick in die Worte „Überzähliger“ und „Schlechtgeborener“ fasst, sieht als Kind in der Schriftstellerei die beste Möglichkeit, seinem Leben eine Daseinsberechtigung zu geben: „Indem ich schrieb, existierte ich.“ So übt er sich früh in der Kunst, „die lebendigen Dinge mit der Schlinge der Sätze“ einzufangen und lebt für seinen baldigen Tod, um als Schriftsteller unsterblich zu werden: „Zwischen neun und zehn Jahren wurde ich vollständig postum.“

Diese Phase der im Familientreibhaus ausufernden Phantasien endet mit dem Eintritt in die Vorschule des Lycée Henri IV, wo Jean-Paul zum ersten Mal mit Gleichaltrigen zusammenkommt und sich neben anderen mit Paul-Yves Nizan anfreundet. Die Traumen seiner einsamen Kindheit treten in den Hintergrund, von wo sie aber den frühen Faden seiner Berufung zu einem so nicht gemeinten Erfolg weiterspinnen.

Erzählweise und Deutung

Das Werk ist in zwei etwa gleich umfangreiche Teile, Lesen und Schreiben, gegliedert. Es ist keine Autobiografie, sondern ein auf die Kinderjahre reduzierter Ausschnitt. Und es ist nicht einmal ein Ausschnitt, sondern eine auf das Psychogramm der Familie reduzierte Facette dieser Kinderjahre. Äußere Daten und eine chronologische Ordnung sind selten, familiäre Ereignisse und selbst gesellschaftliche Katastrophen wie der Beginn des ersten Weltkrieges spielen kaum eine Rolle.

Mit viel Ironie seziert und inszeniert der Autor seine Jugend, die er „verabscheut, mit all ihren Überresten“, von denen er sich aber bis in sein reifes Alter in seinem Werk vorangetrieben sieht. Diese Selbstanalyse ist die schmerzhafte Erinnerung an einen Lebensanfang, der Sartre zuerst fast um den Verstand gebracht und später in den Olymp der französischen Intellektuellen versetzt hat: „Vor allem meine ersten Lebensjahre habe ich durchgestrichen: als ich dieses Buch begann, brauchte ich viel Zeit, um sie unter den Durchstreichungen zu entziffern.“

Thema ist der in seiner bildungsbürgerlichen Familie aufwachsende, sich selbst das Lesen beibringende und ins Erfinden von Geschichten einübende kleine Jean-Paul. Hauptthema aber ist die von seinem Großvater ausgehende Berufung zu Höherem, die der Junge übernimmt, die sich zur Obsession der eigenen Auserwähltheit steigert und den Jungen in ein „Delirium“, einen „langen, bitteren und süßen Wahn“ und eine „Neurose“ führt, „an der ich dreißig Jahre gelitten habe.“ Seine langsame Genesung beginnt erst nach der Konfrontation mit dem wirklichen Leben: Mit seiner Kleinwüchsigkeit (mit acht Jahren war er noch ein Tragekind), mit der Erkrankung eines Auges, mit seiner Hässlichkeit und mit seinen nur mittelmäßigen Schulerfolgen.

Die Zwangsvorstellung einer Sonderrolle erscheint Sartre im Rückblick sowohl als Ursache seiner literarischen Kompetenz als auch seiner sich gegen sein Herkunftsmilieu richtenden späteren Kritik: „Da ich von Hause aus fügsam war, [...] bin ich später nur dadurch zum Rebellen geworden, dass ich die Unterwürfigkeit bis zum Äußersten trieb.“ Zwar endet der biografische Ausschnitt weit vor der Zeit seiner politischen Reifung, aber die vernarbende Gesundung seiner Psyche brachte ihn dazu, „systematisch gegen sich selbst zu denken: so stark, dass mir ein Gedanke umso einleuchtender erschien, je mehr er mir missfiel.“ Die psychotische Störung seiner Jugendjahre mit ihren Halluzinationen, mit seiner frühen literarischen Überaktivität und der Erfahrung von Kultur als Verstellung wird Ausgangspunkt einer außergewöhnlichen intellektuellen Karriere, die bis ins reife Alter immer wieder und immer noch durch die frühen Pflichten seiner familiären Berufung gesäubert wird: „Ich bin ein Schriftsteller der Fleißübungen.“ Anders als Albert Camus sich seinen Sisyphos können wir uns Jean-Paul Sartre daher keineswegs als „glücklichen Menschen“ vorstellen. Aber doch als einen, dessen rücksichtslose Selbstanalyse den Leser tief beeindruckt.

Die Signatur dieser Biographie ist die einer Ironie der Geschichte, die den angepassten und einsamen kleinen Jean-Paul zum revoltierenden Vordenker der Massen des Pariser Mai 1968 werden ließ. Auf seinen ersten zehn Lebensjahren und ihren Nachwirkungen beruht seine umfassende Bildung, seine stilistische Finesse, seine Selbstkritik, seine Produktivität und damit seine Stellung als einer der wichtigsten französischen Intellektuellen des 20. Jh. Es ist das Verdienst dieses Werkes, die Dialektik der Geschichte auch in Sartres eigenem Lebensweg aufgezeigt zu haben.


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