Der Fall

Aus Weltliteratur

Der Fall (franz.: La Chute) ist ein philosophischer Roman von Albert Camus. Er sollte eigentlich in Camus´ "Novellen des Exils" (Das Exil und das Reich) veröffentlicht werden, wurde dann aber zu umfangreich und erschien im Jahr 1956. Er ist sein letztes vollendetes Prosawerk. Die Geschichte ist in Amsterdam angesiedelt und wird als Monolog erzählt vom selbsternannten "Bußrichter" Jean-Baptiste Clamence, der einem Fremden (dem Leser?) seine Vergangenheit als erfolgreicher Anwalt offenbart. In seiner Lebensbeichte erzählt er von seiner Krise und seinem Fall, der als individuelle säkulare Version des Sündenfalls gesehen werden kann. Jean-Paul Sartre soll Der Fall als Camus' bestes Prosawerk betrachtet haben. Es erkundet Themen wie: Bewusstsein, Freiheit und die absolute Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens. Clamence kann in der Tradition von Lermontows Ein Held unserer Zeit, Fjodor Dostojewskis Aufzeichnungen aus dem Kellerloch und Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra gesehen werden. Wie in diesen Werken beruht auch in Der Fall die Hauptwirkung auf der Verwendung einer Erzähltechnik, die - indem Clamence von seinem früheren falschen Leben berichtet - den Leser selber zum Nachdenken über sein eigenes Leben anregt. Camus zielt darauf ab, den Leser zum Schluss zu bringen, dass das Leben vollständig absurd ist - und ihn diese Tatsache akzeptieren zu lassen.

Zusammenfassung

Das Leben in Paris

Der Roman beginnt mit dem in der Bar Mexico City sitzenden Clamence, der nebenbei einem Fremden erklärt, wie man richtig etwas zu Trinken bestelle. In der Bar, trotz des weltmännischen Rufs Amsterdams, spricht der Barmann ausschliesslich niederländisch. Clamence übersetzt für sein Gegenüber, und beginnt dann mit ihm (sie haben herausgefunden, dass sie Landsmänner sind, und beide von Paris) ein ernstes Gespräch.

Calmence gibt bekannt, dass er ein perfekt erscheinendes Leben in Paris geführt habe, als erfolgreicher und angesehener Anwalt. Der Hauptteil seiner Arbeit habe sich um Witwen und Waisen gedreht, die Armen und Entrechteten, die sich sonst keine Verteidigung leisten könnten. Er erzählt auch von seiner alltäglichen Hilfsbereitschaft (Blinden über Strassen helfen, Platz frei machen im Bus etc.) Er glaubte von sich selbst, er lebe nur im Dienst der andern und habe mehr erreicht als der gemeine Mann, er habe es auf den Gipfel geschafft, wo die Tugend ihre eigene Belohnung sei.

Eines nachts beim überqueren der Pont Royal unterlässt er es, einen Selbstmord zu verhindern. Er lebt wie gewohnt weiter. Später kommt er zum Schluss, dass er gehemmt war, die Frau zu retten, weil er dafür seinen eigenes Leben gefährden hätte müssen. Jahre später, ohne dass ihm das Vergessen des Vorfalls gelungen wäre, hört er auf der Pont des Arts ein Lachen, das ihn fortan verfolgen sollte.

Ein dritter und endgültiger Vorfall besiegelt Clamences Abwärtsspirale: Bei einem Stopplicht wartet Clamence hinter einem nicht anspringenden Motorrad, das er nicht überholen kann. Es kommt zum Streit mit dem unnachgiebigen beleidigenden Motorradfahrer. Als Clamence ihn schlagen will, interveniert jemand und empört sich darüber, dass Clamence einen Mann schlagen wollte, der durch sein Motorrad behindert - und somit benachteiligt - sei. Clamence will die Sache richtigstellen, aber plötzlich schlägt ihn der Motorradfahrer von der Seite an den Kopf und fährt ab. Erniedrigt kehrt Clamence zu seinem Wagen zurück, ohne sich am Unterbrecher zu rächen. Es kommt ihm erst danach - immer wieder - in den Sinn, was er hätte tun können. Verbitterung nagt an ihm. Nachdem er in der Öffentlichkeit geschlagen worden war ohne sich zu wehren, ist es ihn nicht mehr möglich, sich sein feines Selbstbild aufrechtzuerhalten. Die Tatsache wiederum, dass ihn der demütigende Vorfall derart stört, deutet für ihn darauf hin, dass er gar nicht derjenige wohltäterische Freund der Wahrheit war, für den er sich hielt - denn dann hätte er den Vorfall längst vergessen, der ja auch von den Augenzeugen längst vergessen worden sein musste.

Clamence kommt zum Schluss, dass er sein ganzes Leben mit der Suche nach Ehren, Anerkennung und Macht über andere verbracht hat. Nach dieser Erkenntnis kann er nicht mehr leben wie zuvor.

Krise

Anfangs versucht Clamence, gegen das Gefühl anzukämpfen, scheinheilig und selbstsüchtig gelebt zu haben. Er argumentiert gegenüber sich selbst mit seinen guten Taten, muss aber schnell merken, dass dieses Argument nicht zieht. Es fällt ihm ein, dass er, immer wenn er einem Blinden über die Strasse half, besonders gern seinen Hut hob. Da der die Geste nicht sehen konnte, fragt sich Clamence nun, an wen sie denn sonst gerichtet sein musste: An die Zuschauer. So kommt Clamence dazu, sich selbst als scheinheilig und doppelzüngig zu betrachten. Die Klarheit darüber, dass sein ganzes Leben ein falsches gewesen ist, führt ihn in eine geistige und emotionale Krise; und was er gedacht hat, kann er nicht mehr rückgängig machen. Ein Lachen, das er zum ersten Mal auf der Pont des Arts hörte, beginnt seine ganze Existenz zu durchdringen. Clamence beginnt sogar über sich selbst zu lachen, wenn er vor Gericht Angelegenheiten um Gerechtigkeit und Recht verteidigt. Weil er das Lachen nicht ausblenden kann, versucht er es abzuschütteln, dadurch dass er seine Scheinheiligkeit ablegt, indem er den guten Ruf zerstört, den er einst darauf errichtet hatte. So lässt er u.a. unter Leuten unkorrekte Kommentare fallen. Seine Bemühungen schlagen fehl. Man glaubt, er mache Spässe - es erscheint undenkbar, dass ein ehrenwerter Mann solche Dinge ernst meint. Das Lachen nagt immer noch an ihm. Er merkt, dass seine Bemühungen, es zu vertreiben, genauso unehrlich waren: Er habe sich in vollkommenen Hohn stürzen wollen, um das ganze Gelächter auf seine Seite zu ziehen, oder zumindest sich auf seine zu stellen - es sei immer noch ein Erschleichungsversuch, ein Täuschungsversuch am Gesetz gewesen.

Clamence zieht sich zurück, schliesst die Kanzlei, meidet den früheren Umgang. Er beginnt kompromisslose Ausschweifungen - kein Mensch sei heuchlerisch in seinen Genüssen.

Das Leben in Amsterdam

Der letzte von Clamences fünf Monologen findet in seiner Wohnung im ehemaligen Judenquartier statt. Er erzählt spezifischer von den Ereignissen, die ihn nach Amsterdam verschlugen. Durch den Ausbruch des Kriegs und den Fall Frankreichs erwägte er den Beitritt zur Résistance, aber verwarf diesen Plan dann wieder. Stattdessen beschloss er die Flucht aus Paris nach London und nahm einen indirekten Weg, durch Nordafrika. Er fand aber einen Freund in Afrika und wollte dort bleiben und eventuell in Tunis ansässig werden, wurde aber von den Nationalsozialisten verhaftet und in ein Konzentrationslager gesperrt. In der Internierung trifft er einen gewissen Duguesclin, der seinen Glauben in die katholische Kirche verloren hat und die Wahl eines neuen Papstes vorschlägt. Clamence wird gewählt.

Clamence erklärt auch, wie ein bekanntes Gemälde des 15. Jahrhunderts, der "Altar von Gent", in seinen Besitz kam, was am Anfang des Buchs in Andeutungen erwähnt wird. Clamence benutzt das Bild dann, um anhand ihm sein Selbstverständnis als Bußrichter darzulegen: Er büßt für seine Verfehlungen (Nicht-Verhindern des Selbsmords, Eitelkeit, Ausschweifungen), welche durch die Gesellschaft nicht bestraft werden, indem er durch den Besitz des Bildes eine in dieser Gesellschaftsordnung zu bestrafende Schuld auf sich geladen hat. Hiermit hat er sich als Richter seiner selbst eine Möglichkeit zur Buße geschaffen. In diesem Verhalten verdeutlicht sich zu Ende des Romans die Intention des Erzählers, den Leser zur Selbstkritik anzuregen, die er selbst in absurder Weise konsequent auf die Spitze getrieben hat.

Hintergrund

Clamence spricht häufig davon, dass er gerne an erhabenen offenen Orten ist - von Bergspitzen bis zu Oberdecks von Schiffen. Es sei ihm nirgendwo angenehm gewesen, ausser an erhabenen Stellen. Sogar bei alltäglichen Kleinigkeiten habe er sich jeweils hocherhaben fühlen müssen. Amsterdam hingegen liegt unter dem Meeresspiegel, das ist bemerkenswert in Bezug auf Clamences Vorliebe für Höhen. Die Stadt wird als kalter feuchter Ort beschrieben, dessen überfüllte neonbeleuchtete Strassen immer von Nebeldecken verhangen sind. Abgesehen von dieser schaurigen Atmosphäre, wurde die Stadt noch aus anderen Gründen gewählt. Auf den ersten Seiten bemerkt Clamence beiläufig, dass die konzentrischen Amsterdamer Kanäle an die Kreise der Hölle erinnerten. Der innerste Kreis der Hölle wären dann das Gebiet von Amsterdams Rotlichtbezirk und die Bar Mexico City, die Clamence in der Nacht frequentiert und wo sich der Grossteil seiner Erzählung entfaltet. Diese Umstände dienen dazu, wortwörtlich und im übertragenen Sinn, Clamences Fall abzubilden, von den Höhen der Pariser Oberklasse hinunter in die dunkle, trostlose, danteske Unterwelt Amsterdams, wo die gequälten Seelen ziellos aneinander vorbeiwandern. Es ist auch bemerkenswert, dass Camus seine Ideen unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts entwickelte. Clamence sagt, dass er in der Nähe des Mexico City wohne, wo früher das Judenviertel war, bis Hitlers Anhänger "für Platz gesorgt hatten". Unter anderem ist Der Fall ein Versuch, die Möglichkeit eines solchen Völkermords zu erklären.

Weblinks

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