Der Bericht des Gordon Pym

Aus Weltliteratur

Der Bericht des Gordon Pym (Originaltitel: The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket) ist der einzige Roman von Edgar Allan Poe, Erstveröffentlichung 1838. Er beschreibt das Leben des A. G. Pym, der von seiner Jugend an Abenteuer auf See sucht und überlebt, die allmählich seine Einstellung zum Leben verändern. Die Art der Abenteuer sind zum Teil realistisch (Schiffbruch und Meuterei), zum Teil phantastisch (heiße Strömungen und Stromschnellen im Ozean des Südens). Der Roman gilt als das längste und rätselhafteste Prosawerk Poes.


Entstehungsgeschichte

Ein Bekannter Poes, James Kirk Paulding (1778-1860), hatte sich vergeblich bemüht, die Geschichten des Folio-Clubs bei Verlagen unterzubringen. In dem Brief vom 17. März 1836, in dem er Poe davon berichtete, empfahl er ihm, es doch einmal mit einem umfangreicheren Format, "einer Erzählung in zwei Bänden zu versuchen, denn das ist die Zauberformel!" Poe, der wie immer in Geldnot war, ließ sich hiervon motivieren; bei der Stoffwahl dürfte sein Erfolg mit Das Manuskript in der Flasche ausschlaggebend gewesen sein - Poe hatte die Dämonie des Meeres selbst erlebt, sie reizte ihn und er fühlte sich ihr literarisch gewachsen. Dennoch überforderte das gewählte Format den Kurzgeschichtenautor, weshalb er, um das angestrebte Volumen zu erreichen, Exkurse nautischer, geografischer und biologischer Art einfügte und damit die von seinem Zeitgenossen Herman Melville in Moby Dick angewandte und vielgerühmte Struktur vorwegnahm. Eine der wichtigsten Quellen für den Roman dürften die Denkschriften von Jeremiah N. Reynolds (1799–1858), gewesen sein, der sich auf politischer Ebene für die Erforschung der Südsee einsetzte. Poe hat sie mehrfach rezensiert und Passagen aus ihnen übernommen. Nach diesem Reynolds hat Poe noch kurz vor seinem Tod immer wieder gerufen.

Inhalt

Der Roman ist in 25 Kapitel und ein Vor- und ein Nachwort gegliedert.

1. Teil (Kapitel 1): Pym und sein Freund Augustus Barnard unternehmen schon als Jugendliche auf Pyms Segelboot die tollsten Streiche. Einer davon ist eine Nachtfahrt ohne Proviant und Ausrüstung bei aufziehendem Sturm, in dem Augustus sich als betrunken herausstellt, während Pym nüchtern, klar und schreckensvoll ist. In der Dunkelheit werden sie schließlich von einem Walfänger überfahren, dadurch entdeckt und dann gerettet.

2. Teil (Kapitel 2 - 4): Einige Jahre später versteckt sich Pym im Bauch des Walfängers „Grampus“, den Augustus´ Vater als Kapitän führen und den Augustus begleiten soll. In der Dunkelheit unter Deck, zwischen den ausdünstenden Tranfässern und ohne genügend Wasser und Nahrung verliert Pym fast den Verstand. Nach einigen vergeblichen Befreiungsversuchen gibt sich Pym schon auf, aber Augustus befreit ihn nach 11 Tagen aus dem Dunkel: Er hatte es nicht früher tun können, da eine Meuterei auch ihn gefangen gesetzt und fast das Leben gekostet hatte.

3. Teil (Kapitel 5 – 8/9): Die Rückeroberung des Schiffes durch Augustus, Pym und ihren neuen Freund, Dirk Peters, einen früheren Meuterer, gelingt. Die Meuterer werden dadurch überrascht, dass sich Pym als Gespenst eines von seinen Kameraden ermordeten Meuterers verkleidet. Parallel zum Kampf der Menschen tobt der nächste Kampf der Naturkräfte, der nächste Sturm, der das Schiff in ein treibendes Wrack verwandelt.

4. Teil (Kapitel 9 – 13): Etwa drei Wochen harren die drei (Pym, Augustus und Peters) sowie ein anderer überlebender Meuterer auf dem gefluteten Wrack aus, das nur dank der leeren Tranfässer im Laderaum noch schwimmt. Mit geringem Erfolg versuchen sie immer wieder, im Schiff nach Proviant zu tauchen. Hunger und Durst quälen die vier schließlich so sehr, dass sie verlosen, wer von den anderen verspeist werden soll. (Es trifft ironischerweise den Meuterer, der diese Idee zuerst geäußert hatte.) Augustus stirbt in Folge einer Wundinfektion, aber die beiden Überlebenden werden schließlich doch von einem Segler von ihrem inzwischen kieloben treibenden Wrack abgeborgen.

5. Teil (Kapitel 14 - 24) Der sie rettende Segler, die „Jane Guy“, treibt Handel in der Südsee und jagt Robben. Der Kapitän hofft aber auch auf Reichtum, indem er unsicher lokalisierte Inseln wieder findet. Auf der Suche nach ihnen dringt er in große Eisfelder und weiter nach Süden vor als alle Segler vor ihnen. Sie durchstoßen die Eisfelder und kommen in wieder wärmere (sic!) Regionen, getragen von einer Strömung zum Südpol. Sie stoßen auf eine Inselgruppe mit schwarzen Eingeborenen, die die Farbe Weiß nicht oder nur als Vorboten von Unglück oder des Todes kennen. Die „Wilden“ nehmen die Europäer scheinbar zuvorkommend auf, obgleich ein Rest von Pyms Misstrauen nicht zerstreut werden kann, der ungeduldig der Strömung nach Süden folgen will. Überrascht beobachten sie z.B., dass das Wasser hier aus farblich unterschiedlichen Adern besteht, die sich nicht miteinander vermischen. Die Wilden locken die Europäer in eine Falle, indem sie einen Hohlweg zum Einsturz bringen und danach den Schoner erobern. Nur Peters und Pym können sich aus der Verschüttung befreien und nach einigen Tagen von der Insel mit einem Canoe fliehen.

6. Teil (Kapitel 25): Peters und Pym, die einen der Wilden gekidnappt haben, fliehen mit dem Canoe aufs offene Meer. Die Strömung führt sie weiter nach Süden, das Meer erhitzt sich zunehmend (sic!), weiße Vögel fliegen umher, es regnet weiße Asche, das Meer wird milchig weiß und kocht, das Wasser leuchtet, Strudel bilden sich... Der Eingeborene stirbt vor Grauen. Sie scheinen sich einer lautlosen Stromschnelle zu nähern, Bildgestalten tauchen auf, „ungeheure und fahlweiße Vögel“ fliegen umher und im Katarakt erblicken sie im Stürzen eine verhüllte, gewaltige, übermenschliche Gestalt, kein „Menschengezeugter“, mit einer Haut von „makellosem Weiß des Schnees“.

7. Teil, Nachwort: Mr. Poe informiert: Mr.Pym sei plötzlich verstorben und er wolle die noch fehlenden 2-3 Kapitel nicht ohne ihn rekonstruieren. Mr. Poe wendet sich dann den genau beschriebenen und gezeichneten Klüften auf der Insel und ihren Einkerbungen zu, deren Formen er als ähnlich den äthiopischen und ägyptischen Worten für das Dunkle und das Helle erkennt.


Interpretation

Erzählweise

Diese für Poe lange Erzählung von über 200 Druckseiten ist 1837 erschienen, also mehr als zehn Jahre vor Poes Tod. Auch wenn das Werk selbst im Nachwort von seiner Unvollständigkeit spricht (zwei oder drei abschließende Kapitel fehlen angeblich), ist es inhaltlich durch die nicht steigerbare göttliche Erscheinung am Ende und formal durch das Nachwort und seine Erklärungen eigentlich abgeschlossen, also fertig - alle Deutungsansätze können sich daher auf das Gegebene stützen, ohne mit „Lücken“ argumentieren zu müssen.

Der Roman beginnt und endet mit einem Verwirrspiel um die Autorenschaft, in dem Poe zu einer Figur seiner eigenen Erzählung wird: In der „Einleitenden Bemerkung“ blickt er mit den Augen Pyms auf sich als schreibenden „Poe“, in der Nachbemerkung (vermutlich) mit den Augen „Poes“ auf den inzwischen verstorbenen Pym und seine Erlebnisse. Diese Rahmenkonstruktion und der identische Silbenrhythmus der vollen Namen Pyms und Poes legen daher den Gedanken einer irgendwie „autobiografischen“ Deutung nahe.

Die Handlung läuft ab wie in einer Nummernrevue, von einer Notlage über eine zeitweilige Entspannung in eine neue Gefahr voranstürmend. Durch das Auftürmen der Katastrophen stehen Peters und Pym schon nach der Kenterung des Wracks der Grampus kurz vor dem Wahnsinn – und doch sind die folgenden Gefahren „ebenso groß, wenn nicht größer“. Nicht die Tagesdaten strukturieren das Leben Pyms und seiner Freunde, sondern die Art der Katastrophen. Nichts ist so grauenhaft, dass es von den folgenden Ereignissen nicht zu übertreffen wäre und in diesem Klimax des menschlichen Ausgeliefertseins ist die letztmögliche Steigerung die Begegnung der Geschöpfe mit ihrer ultimativen Erscheinung – vermutlich dem Schöpfer selbst.

Mehrere Exkurse liefern Zusatzinformationen über das Stauen auf Segelschiffen, über das Beidrehen im Sturm, über Albatrosse und Pinguine, über die Annäherung von Segelschiffen an den Südpol, über das Leben und die Zubereitung einer bestimmten Muschelart. Hierdurch wird der Fortgang zwar verlangsamt, aber die Erzählung bekommt den Anstrich eines „Tatsachenberichts“, auf den der Ich-Erzähler trotz seiner „wunderlichen“ Erlebnisse schon in der Einleitung Wert legt.

Deutung

Der Pym wird bisweilen als eine „allegorische Autobiographie“ gesehen. Hierfür sprechen die Seereise, die meisten Abenteuer, die realistischen Details und Exkurse. Aber schon das häufige Grauen der Erlebnisse und erst recht die Symbolik, die rätselhaften Formen der Klüfte auf der Insel, die Bedeutung der Farben Schwarz und Weiß, der den Ozean verschlingende Katarakt sowie die übermenschliche Erscheinung am Ende werfen Fragen auf.

Pym sträubt sich in der „Einleitenden Bemerkung“ zunächst dagegen, seine Erlebnisse schriftlich zu erzählen: Er fürchtet, die Öffentlichkeit werde seinen Bericht als Erfindung und nicht als Tatsachenbericht auffassen. Aber Pym erlaubt schließlich der Figur „Poe“, statt seiner den ersten Teil des Berichts zu schreiben und diesen sogar unter „Poes“ Namen zu veröffentlichen… Dass der Autor so markant die „Wahrheit“ der offenbar surrealen Ereignisse thematisiert ist ein Hinweis auf die außerfaktische, subjektive Wahrheit dieser Erfahrung: Der Erlebnisbericht schildert eine innere Reise, die schmerzhafte Geburt einer Einsicht in das Funktionieren der Welt. In den Katastrophen verändern sich die Überlebenden des Schiffbruchs, Pym und Peters, der allmählich zu einem alter ego Pyms heranreift. Der Reisebericht wird zur Geschichte der Entwicklung der Welt-Anschauung seiner Helden. Der Pym ist keine wie auch immer metaphorische Autobiografie sondern der Bericht einer inneren Entdeckung:

Die Reise an die Grenzen der bekannten und geordneten Welt wird zu einer Erweiterung der Wissens und Veränderung der Haltung: Nicht nur hat Pym allmählich geistige Übersicht und Vorsicht erworben, was ihn von den anderen Mitreisenden unterscheidet, sondern er erweitert damit auch seine Kenntnis der Welt: „Wir entdeckten nichts, was uns vertraut gewesen wäre.“ Und trotz des auf den Katarakt zuschießenden Canoes bleiben Peters und Pym aufmerksam bis zur letzten Offenbarung. Poe verbindet das Thema des Untergangs seiner Helden mit dem Thema eines faszinierenden Erkenntniszuwachses: Nur im Risiko erfahren die Helden etwas über das Wesen der Welt – exakt in dem Moment, in dem sie verschlungen werden und nur dadurch, dass sie verschlungen werden.

Der Wendepunkt in der Entwicklung, der Beginn der Katharsis lässt sich genauer eingrenzen: die Hauptfiguren Pym und Peters haben die Wochen auf der gekenterten "Grampus" hinter sich – zwar sind die folgenden Gefahren „ebenso groß, wenn nicht größer“, aber sie werden von den beiden anders als bisher oder anders als von anderen überwunden: „Der Unterschied lag in unserer geistigen Verfassung“, in der unaufgeregten Aufmerksamkeit, in der mehr „stoischen Denkart“ den Katastrophen gegenüber: So regt Peters nach dem Verschüttetwerden auf der Insel schnell die erfolgreiche Suche nach Auswegen an und dank seiner Findigkeit und Entschlossenheit können sie auch aus der Steilwand absteigen. Die Welt ist aus den Fugen und mal sind die Inseln verlässlich da, wo sie sein sollten, dann wieder sind sie verschwunden – die Menschen finden keinen sicheren Hafen, aber statt zu jammern versuchen sie, „den Umfang unseres Unglücks genauer festzustellen“: aufmerksam, stoisch, nicht-resignativ. In der starken Strömung auf den Südpol-Katarakt zu bleibt Pym aufmerksam und Peters wird „sehr wortkarg“ und „apathisch“ (griech. affektlos, bzw. philosophisch: stoisch) – der Wilde im Kanu aber stirbt vor Entsetzen.

Die Erzählung prüft die Möglichkeit einer Lebensentscheidung in einem Orientierungsdreieck von Optimismus, Fatalismus und einem "aktiven" Gleichmut in den unvorhersehbaren Wechselfällen des Lebens, der hier allein seine Helden überleben lässt. Der Roman ist der Bericht einer Katharsis, einer Selbst-Erfahrung, in der Zuversicht und christlicher Optimismus sich unter dem Einfluss der Katastrophen in eine stoische, trostlose Neugier verwandeln. Im Bericht des A. Gordon Pym beschreibt Poe die Entstehung seiner unchristlichen Weltanschauung des knappen Überlebens in einer Sprache der Tatsachen, da es eine Sprache der psychologischen Realitäten zu seiner Zeit noch nicht gegeben hat.

Sein Thema der Balance von Katastrophenfatalismus und optimistischem Aktivismus, von Gefahr und Erkenntnis hat Poe nicht nur im Pym sondern auch in anderen seiner Erzählungen bearbeitet (vgl. z. B. die Erzählungen Atemverlust, Das Manuskript in der Flasche und Der Sturz in den Maelström).

Wirkung

Der Roman wurde unter dem Titel Die Eissphinx (1897) von Jules Verne fortgesetzt. Die Einnahmen dieses Romans wurden allerdings vollständig an den Verlag Poes gezahlt, nachdem dieser vor Gericht gegen Jules Verne gewonnen hatte.

Von Charles Romyn Dake gibt es eine Fortsetzung: A Strange Discovery (1899).

Auch auf H. P. Lovecraft hatte die Geschichte ihre Auswirkungen; er führte sie in Berge des Wahnsinns (engl. At the Mountains of Madness) in gewissem Maße fort.

Literatur

Weblinks


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