Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen

Aus Weltliteratur

Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (frz. Original: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes)ist der Titel eines Werks von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778). Häufig wird der Discours sur l'inégalité auch schlicht der "Zweite Diskurs" genannt, weil er im Werk Rousseaus' auf den Discours sur les sciences et les arts (1750), den "Ersten Diskurs", folgt.

Die Erstausgabe des Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes erschien 1755 in französischer Sprache beim Genfer Verleger Marc-Michel Rey in Amsterdam und ist die Antwort auf eine Preisfrage der Académie de Dijon für den Prix de morale von 1754. Sie lautete: Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen und ob sie durch das natürliche Gesetz autorisiert wird (im Originalwortlaut: Quelle est la source de l'inégalité parmi les hommes, et si elle est autorisée par la loi naturelle)? Der Preis der Académie - eine Goldmedaille im Wert von dreißig Pistolen - wurde allerdings an Abbé Talbert vergeben, der sich schon am Preisausschreiben 1750 beteiligt hatte. Dessen Antwort lag auf der Linie der religiösen und politischen Autoritäten. Bis heute wird vermutet, dass die Académie de Dijon einen ähnlichen Eklat wie bei der Preisvergabe 1750 vermeiden wollte.

Der politische Brennstoff, den die Frage beinhaltet, wird deutlich, wenn man sich das zeitgenössische Zeugnis von Charles de Brosses in Erinnerung ruft. Am 29. März 1754 schrieb er an seinen Bruder: "Diderot spricht viel mit mir über das Thema dieses Preises. Er findet es sehr schön, aber er hält es für unmöglich, es in einer Monarchie zu behandeln. Er ist ein schrecklich kühner Philosoph..."

Die staatsrechtlichen Auseinandersetzungen, die Rousseau in der Tradition von Hobbes, Locke, Grotius und Pufendorf aufnahm, führten in jedem der genannten Fälle zu der grundsätzlichen philosophisch-anthropologischen Frage nach dem Urzustand des Menschen. Dies geht zurück bis zu Aristoteles, dessen Zitat "non in deprevatis, sind in his quae bene secundum naturam se habent, considerandum est quid sit naturale" (Aristoteles: Politik. I, 5: "Nicht in depravierten Dingen, sondern in jenen, die sich in einem guten Zustand gemäß der Natur befinden, muß man betrachten, was natürlich ist.") sich Rousseau zum Motto für den Zweiten Diskurs wählt. Rousseau geht im Unterschied zu Hobbes nicht von einem bellum omnium contra omnes aus. "Hobbes hat nicht gesehen, dass dieselbe Ursache, welche die Wilden am Gebrauch ihres Verstandes hindert (...), sie zu gleicher Zeit am Mißbrauch ihrer Fähigkeit hindert, den er selbst annimmt. Auf diese Weise kann man sagen, daß sie gerade deswegen nicht böse sind, weil sie nicht wissen, was gut sein heißt", schreibt Rousseau. "Denn weder der Fortschritt ihrer Erkenntnisse noch der Zwang des Gesetzes, vielmehr die Unberührtheit von den Leidenschaften und die Unkenntnis des Lasters verhindern sie, böse zu sein." Dies aber - wie häufig geschehen - als einen glücklichen Naturzustand der "guten Wilden" zu beschreiben, greift zu kurz.

Die Frage nach dem Naturrecht, die eng mit dem Naturzustand und der Frage von Gleichheit bzw. Ungleichheit zusammenhängt, beantwortet Rousseau lakonisch: Recht entsteht erst mit der politischen Gesellschaft. Daraus folgt, dass es kein natürliches, vorstaatliches Recht - also kein: Naturgesetz - geben kann, dass den Status des Menschen als ein freies oder unfreies Wesen vorab festlegt. Gleichzeitig leugnet Rousseau nicht die faktische Ungleichheit unter den Menschen - wohl aber verneint er eine wesensnotwendige Verbindung von natürlicher und politischer Ungleichheit.

Wesentlich für den Naturzustand ist, wie die sozialen Beziehungen geartet waren. Hier führt Rousseau den Begriff der indépendance (Unabhängigkeit) in sein Werk ein: Die Menschen des Naturzustandes waren gleichgültig gegenüber allen anderen Menschen. Entscheidend ist nun nicht, um ein Beispiel zu nennen, ob ein Mensch einen anderen Menschen umbringen würde oder nicht, sondern dass der Mensch im Naturzustand keinerlei moralische Beziehungen und Pflichten gekannt hat und so weder gut noch schlecht war.

Durch die Eigentumsbildung kam es dann zu der verhängnisvollen politischen Ungleichheit, die bis in Rousseaus Zeiten und darüber hinaus fortdauerte: "Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ,Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.'" Im Licht dieser Aussage ist der erste Satz des ersten Kapitels des Gesellschaftsvertrages zu verstehen: "Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten."

Die philosophische Deutungsgeschichte des Discours ist eine Geschichte voller Mißverständnisse. Die jüngste anspruchsvolle Interpretation lieferte der Discours-Herausgeber Heinrich Meier: Er liest Rousseaus "rhetorischste Schrift"[1] ausgehend von der Rhetorik: "Die Konzeption des Diskurses über die Ungleichheit selbst setzt von allem Anfang an eine fundamentale Ungleichheit voraus."[2] Somit tritt Meier von Beginn an der traditionellen Lesart entgegen: Fast zweihundert Jahre lang hatte die Mehrheit der Leser den Diskurs über die Ungleichheit als einen Diskurs gegen die Ungleichheit gelesen.

Einzelnachweise

  1. Meier, Heinrich: Les rêveries du promeneur solitaireRousseau über das philosophische Leben, München 2005
  2. Meier, Heinrich: Rousseaus Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Ein einführender Essay über Rhetorik und die Intention des Werkes, in: J.-J. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit (Ed. Meier), UTB 2008


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