Der eingebildete Kranke
Der eingebildete Kranke (im französischen Original Le Malade imaginaire, wörtlich Der eingebildet bzw. vermeintlich Kranke), ist eines der berühmtesten Theaterstücke und gleichzeitig auch das letzte Werk von Molière. Das Stück wurde am 10. Februar 1673 uraufgeführt. Die Rolle des Titelhelden spielte der Dichter selbst. Doch bei der vierten Vorstellung, am 17. Februar 1673, erlitt er einen Blutsturz und starb wenige Stunden darauf noch in seinem Kostüm. Die Komödie besteht aus drei Akten.
Inhalt
Das Stück handelt vom Hypochonder Argan, der sich nur einbildet, krank zu sein. So zieht er diverse Ärzte zu Rate, die die einzigen sind, die ihm seine eingebildete Krankheit abnehmen und ihn in dieser unterstützen. Geduldig befolgt er alle Anordnungen seines Arztes und führt sie genauestens aus. Dem Arzt selbst kommt dieser Umstand sehr gelegen und er verschreibt Herrn Argan überflüssige Behandlungen gegen überteuerte Rechnungen. Argan hingegen möchte, natürlich auch aus eigennützigen Motiven, dass seine Tochter Angelique den Thomas Diafoirus, den Sohn eines Arztes heiratet. Angelique ist jedoch in Cléante verliebt.
Gemeinsam mit Toinette (Argans Hausmädchen) unternimmt Béralde, der Bruder des vermeintlich Kranken, mehrere Versuche, Argan von seiner Arzt-Besessenheit zu heilen. Schließlich überreden die beiden ihn, sich tot zu stellen, um dann herauszufinden, wer ihn denn nun wirklich liebe. Hierbei erkennt Argan die wahre Liebe seiner Tochter und die Geldgier seiner zweiten Frau, die nicht die leibliche Mutter Angeliques ist. Angelique steht es am Ende frei zu heiraten, wen sie möchte – unter der Bedingung, dass ihr Zukünftiger ein Arzt sei oder werde … Cléante verspricht noch dazu, Apotheker zu werden, wobei er dies nicht machen muss, denn Béralde sagt zu Argan, dass er doch selbst Arzt werden könne und Argan diesem Vorschlag zustimme.
Interpretation
Lachen über den Tod in Der eingebildete Kranke
Ein wichtiges Thema in Der eingebildete Kranke ist das Spiel mit dem Tod. Immer wieder taucht der Tod auf: Argan fürchtet zu sterben, die Verliebten Angélique und Cléante wollen nicht mehr leben, wenn sie nicht vereint sein können, Argans jüngste Tochter benutzt das Spiel mit dem Tod als eine List um einer Tracht Prügel zu entgehen und Argans zweite Frau Béline wartet nur darauf, dass Argan stirbt, auf dass sie ihr Erbe einstreichen kann. Als krönender Abschluss stellt sich Argan tot, um die wahren Gefühle seiner Frau und seiner Tochter herauszufinden. Trotz dieser eigentlich ernsten Thematik bleibt Der eingebildete Kranke eine echte Komödie. Das Lachen über den Tod wird auf verschiedene Weise erreicht.
Lachen über Argan
Zum einen lacht der Zuschauer/ die Zuschauerin über den Protagonisten: Argan ist besessen: er behauptet krank zu sein, aber außer seinen Ärzten glaubt ihm das niemand. Deswegen wirkt er komisch. Ginge man davon aus, dass Argan wirklich an einer so schweren Krankheit leidet, wie er es vorgibt, so empfände man Mitleid mit ihm oder würde seine Angst vor dem Tod teilen. Es braucht also einen gewissen emotionalen Abstand zu dem komischen Helden. Bergson spricht von einer „anesthésie momentanée du cœur“. Lässt sich der Zuschauer/die Zuschauerin auf das Schicksal Argans ein, so erscheint es eher als ein tragisches: Argan hat Angst zu sterben, er leidet. Woran lässt sich scheinbar schwer bestimmen, doch muss das noch nicht heißen, dass er nicht krank ist: Es gibt viele Krankheiten, die keinerlei physische Ursache zu haben scheinen und dennoch nicht zum Lachen sind. Das sind eigentlich keine Gründe, über ihn zu lachen. Doch da dem Zuschauer/der Zuschauerin, bereits durch den Titel des Stückes suggeriert wird, Argan sei nicht wirklich krank, kann er sein Mitgefühl „ausschalten“ und lachen. Argans Krankheit wird als fixe Idee entlarvt, die ihn in all seinen Handlungen bestimmt: Zum Beispiel treibt sie ihn zu dem Entschluss, seine Tochter mit dem jungen Arzt Thomas Diafoirus zu verheiraten, obwohl dieser ganz offensichtlich kein wünschenswerter Schwiegersohn wäre.
Wer Argans Krankheit als fixe Idee entlarvt hat, kann vielleicht aus einem gewissen Überlegenheitsgefühl heraus über ihn lachen. Der Zuschauer/die Zuschauerin weiß mehr über Argan, als die Figur des Argan über sich selbst weiß. „Es gibt eine Komik der naiven Natürlichkeit […]. Erst unter Voraussetzung dieser Naivität, d.h. der Bewusstlosigkeit des Subjekts mit Hinblick auf seine Fremdbestimmtheit, wird diese wirklich komisch“ (Stierle, Text als Handlung,S.61) Nehmen wir an, Argan sei eine wahrhafte Person, so würde er sicher nicht wollen, dass über ihn gelacht wird. Er versteht weder sich, noch seine Handlungen als komisch, da er an seine fixe Idee glaubt. Er ist also unfreiwillig komisch. Beobachtet man jemanden, der aus einer Ungeschicklichkeit heraus etwas Falsches tut, so beinhaltet dies sehr viel mehr komisches Potential, als wenn er dies absichtlich täte. Der passive Komiker wirkt meist lustiger, als der aktive Spaßmacher. „In der Passivität des Helden liegt also seine dramatische und komische Wirkung. Er glaubt zu handeln und wird durch ihm unsichtbare Mächte geschoben. Derjenige allerdings, der die verborgene Maschinerie des Weltwillens sieht, wird in Überlegenheit lachen.“ (Müller, Theorie der Komik, S.60) Er vergleicht den komischen Helden mit sich selbst und kommt zu dem Schluss, dass er selbst niemals diese Dummheit begehen würde. Hierbei kann man auch von der Katharsis der Komödie sprechen: Menschliche Übel werden durch deren Anschauung, quasi nach dem homöopathischen Prinzip, geheilt, oder wenigstens verbessert. Durch Distanz und Überhebung gelingt es dem Zuschauer zu erkennen, was er selbst vermeiden will: „Sieh dort auf der Bühne den Geizigen, den Aufschneider, den eingebildeten Kranken, lieber Zuschauer, du wirst ihm doch nicht gleichen […] wollen?“ (Weinrich, Lachen ist gesund, S.405) Vielleicht lacht der Zuschauer, der Argans Krankheit als fixe Idee entlarvt sieht, aber auch, weil er weiß, dass sich die Spannung, die die Figur Argan in sich trägt und so auch überträgt, in nichts auflösen wird. Er lässt sich von Argans Angst fesseln und lacht zugleich, weil er weiß, dass nichts Schlimmes passieren kann, so wie Kant es ausdrückt: „Das Lachen ist ein Effekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts.“ (Kant, Kritik der Urteilskraft, S.437)
Lachen über die Mediziner
Ein weiterer Aspekt, der uns zum Lachen über den Tod führt, ist die Art und Weise, in der die Ärzte dargestellt werden: Das Thema der Medizin bzw. der Mediziner taucht bereits im französischen Theater des Mittelalters auf und findet sich sowohl in Stücken der Commedia dell’Arte, als auch im französischen Theater des 17. Jahrhunderts wieder. Molière greift den Stoff erstmals in Le médecin volant auf, eine sehr frühe Farce, der aber keine größere Bedeutung beigemessen wird. Im Dom Juan ou le Festin de Pierre (1665) taucht das Thema Krankheit, Medizin und Mediziner erneut auf. Hier reicht es aus, dass Sganarelle (ein Diener) die Arztrobe anzieht, um hochgelehrt zu erscheinen und so zu sprechen. Es tauchen zwei wichtige Motive auf: Der den Medizinern zugeschriebene Fachjargon und das Motiv, dass die Kleidung bereits den Mediziner ausmacht. Noch im selben Jahr schreibt Molière die „heftige[…] persönliche[…] Satire“ (Grimm) L’amour médecin. Ein Jahr später erscheint die ebenso heftige Ärzte-Satire Le Médecin malgré lui. 1669 versuchen zwei gekaufte Ärzte Monsieur de Pourceaugnac, in dem gleichnamigen Stück, eine „mélancolie hypocondriaque“ einzureden. In Le Malade imaginaire scheint Molière eine gewisse Sanftmut den Ärzten und der Medizin gegenüber entwickelt zu haben: Argans Arzt Monsieur Purgon wird hier zwar als dumm hin gestellt, da er der Medizin ganz verfallen ist und an sie glaubt, jedoch handelt er weder aus bösem Willen noch aus reiner Geldgier.
Der Mediziner ist also schon ein fester Bestandteil der damaligen Komödien. Er wirkt komisch, da er zuständig für den Körper ist (beispielsweise untersucht er den Urin). Damit bricht er ein großes Tabu des 17.Jahrhunderts.
Außerdem wird der Mediziner allgemein als Hochstapler angesehen: Er tritt immer in seiner Arztrobe auf und redet in einem ganz bestimmten Fachjargon, durch den er versucht sich über die anderen zu stellen. Jedoch kann er nichts bewirken und verschriebt immer nur die selben Behandlungsmethoden und Medikamente (Klistiere, Aderlässe und Diäten). Der Mediziner sieht sich selbst als Autorität an, kann diesem Anspruch allerdings nicht gerecht werden. (Nicht einmal sein Latein ist richtig!) Ein weiterer Punkt ist der Autoritätsglaube der Mediziner: Sie vertrauen ganz auf die alten Lehren und auf die medizinische Fakultät. Sie verschließen sich allem neuen, wie in Der eingebildete Kranke zum Beispiel dem Blutkreislauf. Der Mediziner handelt also auch fremdbestimmt. Bei ihm wird die lebendige Anpassungsfähigkeit durch die Starrheit der medizinischen Doktrin und der Abhängigkeit von Autoritäten verdrängt. Durch diese extreme Abhängigkeit von der medizinischen Fakultät, wirken die Ärzte häufig realitätsfern. Dies wird in Der eingebildete Kranke besonders an der Figur der Thomas Diafoirus deutlich: Er kommt in das Haus von Argan um Angélique einen Heiratsantrag zu machen (2. Akt, Szene 5). Zunächst begrüßt er mit schwülstigen Worten Argan selbst, dann wendet er sich zu Angélique, hält sie jedoch für Béline, deren Stiefmutter, da es sich ziemt zunächst die Eltern der Braut zu begrüßen, also muss die zweite Person, die sich ihm in den Weg stellt die Mutter der Braut sein. Als er schließlich die verspätete Béline vor sich hat, gerät er ins Stottern und vergisst seinen auswendig gelernten (!) Text. Den Heiratsantrag, den er Angélique schließlich aufsagt wirkt gestelzt und das Geschenk, welches er ihr darbietet, zeigt deutlich wie wenig er Mensch und wie sehr er Mediziner ist: Er überreicht ihr seine Dissertation und eine Einladung zur Sezierung einer Frau mit zu kommen.
Indem die Mediziner lächerlich gemacht werden, und der Zuschauer/ die Zuschauerin über ihn lachen kann, kann er/sie auch über Krankheit und Tod lachen, da Mediziner als Symbol für dieses gelten dürfen.
Das Spiel mit dem Tod
Ein wichtige Funktion um die ZuschauerInnen zum Lachen über den Tod zu bewegen, hat die Rolle der kleinen Louison inne. Louison ist Argans 7- oder 8-jährige Tochter. Sie benutzt den Tod als List („Wartet, ich bin tot.“ (2. Akt, Szene 8), doch durch ihre Kindlichkeit wird diese List zum Spiel. Über Kindlichkeit und über Spiele sind wir gewohnt zu lachen. Beidem wohnt die Leichtigkeit inne, die uns versichert, dass nichts Schlimmes passieren kann. So wird dem Tod gegenüber eine kindliche Einstellung etabliert (mit Hilfe der Figur des Kindes), die die Realität des Todes, welche durch Argans Todesangst dem Zuschauer/der Zuschauerin immer wieder ins Bewusstsein gerufen wird, negiert. Indem man sich auf Louisons Spiel einlässt, entsteht ein Gefühl von Unsterblichkeit. In der Szene zwischen Argan und Louison wird außerdem noch einmal Argans entsetzliche Angst vor dem Tod deutlich, als er sofort davon überzeugt ist, dass er seine Tochter getötet hat. Daraus wird deutlich, wie präsent die Todesangst Argan zu jedem Zeitpunkt ist. Da dem Zuschauer wiederum klar sein müsste, dass Louison nicht gestorben ist, wirkt die Reaktion Argans überzogen und somit lächerlich. Louison hat keine Angst vor dem Tod. Sie, das Kind, ist Symbol für das Leben, welches einen hellen Kontrast zu den ständig anwesenden Symbolen des Todes bildet. Das Leben in dieser Szene hat eine solche Macht, dass Argan sogar seine Krankheit vergisst: „ich hatte nicht einmal die Zeit, an meine Krankheit zu denken".
Die Angst vor dem Tod verliert er trotzdem nicht: Toinette überredet Argan dazu, er solle sich tot stellen, so dass Béralde von den guten Absichten Bélines überzeugt würde. Argan zögert: „Ist es nicht gefährlich, sich tot zu stellen?“(3.Akt, Szene 11) Ein weiteres Mal wird hier mit dem Tod gespielt. Louison ahmte den Tod nach, ohne dass er ihr etwas anhaben konnte und nun soll sich Argan auch auf dieses Wagnis einlassen. Dieses Spiel mit dem Tod erinnert ein wenig an ein Stück namens Calandria (von Bibbiena), in dem Calandro von seinem Diener in eine Kiste gesteckt wird um zu einem Stelldichein zu gelangen. Doch Calandro fürchtet in der Kiste zu sterben, woraufhin sein Diener Fessenio ihm erklärt, dass man zwar in solchen Kisten sterben würde, dies jedoch nichts anderes sei, als einzuschlafen. Man müsse es also genauso üben, wie das Aufwachen. Hier spielen sicherlich religiöse Anschauungen über den Tod mit, wie zum Beispiel die Vorstellung, man entschlafe um zum jüngsten Gericht wieder aufzuwachen. Diese Vorstellungen können auch hinter Louisons Beschwichtigung („Ich bin noch nicht ganz tot." (2.Akt, Szene 8)) vermutet werden. Durch das Spiel mit dem Tod, wird dieser gleichsam irrealisiert: „Indem der Betrachter das komische Faktum isoliert und als dieses zur Anschauung bringt, wird das in ihm liegende Moment einer Bedrohung der Handlungswelt als akzidentiell und eliminierbar aufgefaßt. Nachdem gelacht wurde, ist die Welt wieder ins Lot gebracht, die komische Verstrickung ist, indem sie im Lachen fallengelassen wurde, negiert.“ (Stierle: Text als Handlung)
Literatur
- Karlheinz Stierle: Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Literaturwissenschaft. München 1975.
- Harald Weinrich: Was heißt „Lachen ist gesund?“. In: Preisendanz, Warning (Hrsg.): Das Komische. München 1976. S. 402–409.
- Irene Pihlström: Le Médecin et la médecine dans le théâtre comique français du XVIIe sciècle. Uppsala 1991.
- Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Ders.: Werke. Bd. 8.
- Gottfried Müller: Theorie der Komik. Über die komische Wirkung im Theater und im Film. Würzburg 1964.
- Johannes Hösle: Molière. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit. München 1987.
- Jürgen Grimm: Molière. Stuttgart 1984.
- Henri Bergson: Le rire. Essai sur la signification du comique. In: Ders.: Œuvres. Paris 1963. S. 383–485.
Weblinks
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