Die Sonette

Aus Weltliteratur
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"Shakespeare's Sonnets" (dt. Shakespeares Sonette) ist ein Gedichtband mit 154 Sonetten des Dichters William Shakespeare. Im Anschluss an die Sonette enthält das Buch das lange Gedicht A Lover's Complaint (dt. Einer Liebenden Klage). Gemeint sind hier nicht die zahlreichen auch in den Dramen Shakespeares vorkommenden Sonette.

Die Erstausgabe von 1609

Das Buch erschien 1609 im Verlag von Thomas Thorpe in London. Der Titel lautet "SHAKE-SPEARES Sonnets. Neuer before Imprinted" (das "u" in "Neuer" ist als konsonantisches "v" zu lesen). Im englischen Sprachraum wird diese Ausgabe häufig die "Quarto edition" genannt, eine Konvention, die sich nach dem Buchformat richtet. Einige der Sonette waren zuvor schon publiziert worden, so die Nummern 138 und 144 in dem Gedichtband The Passionate Pilgrim (gegen 1599). Auch sind literarische Anspielungen auf die Sonette bereits aus den 1590er Jahren belegt. Die meisten Kommentatoren gehen deshalb davon aus, dass Shakespeare zumindest einen Teil der Sonette bereits vor 1600 verfasst hat. Die Authentizität der Sonette wird in der Fachwelt nicht bestritten: sie sind Werke dessen, der auch die Shakespeare-Dramen geschrieben hat.

Das Buch enthält nach dem Titel eine scheinbare Widmung an einen "Mr. W. H." ("Mr." ist "Master" zu lesen), der "the only begetter" der Gedichte genannt wird. Diese Bezeichnung "begetter" – Shakespeare verwendet das Wort nie, auch hier ist es nicht sein Wort, sondern das des Verlegers – ließe sich als "Erzeuger", "Verursacher", "Beschaffer", "Kolporteur" usw. deuten. Diese "Widmung" blieb jedoch wie die mit den Initialen gemeinte Person bis heute rätselhaft. Eben darum hat beides zu einer Unzahl von Spekulationen und Kontroversen geführt. Man kann jedoch davon ausgehen, dass eine Entdeckung des "wahren" Mr. W. H. die erhoffte wichtige Information über das Zustandekommen der Sonette höchstens dann erbrächte, wenn damit ein prominenter Zeitgenosse gemeint wäre, was keinesfalls sicher ist. Die Ansicht gewinnt zunehmend an Plausibilität, dass diese "Widmung" eine Verleger-Notiz vielleicht zu Werbezwecken sein könnte. Die Identität des "Mr. W. H." mit dem angeredeten Freund der Sonette wird durch die Anspielung der "Widmung" auf Sonett 18 nahegelegt. Diese Person, die in einer homoerotischen Beziehung zum Verfasser gestanden haben soll, wird zugleich genannt und verborgen, wodurch der Neugier der Leserschaft Vorschub geleistet wird. Dass sich hinter dem Namenskürzel eine Person des mäzenatischen Adels der Zeit verbirgt, etwa – was öfters vermutet wurde – William Herbert, der Graf von Pembroke, ist unwahrscheinlich, vor allem durch nichts belegt. Eine Adelsperson hätte sich auch kaum in eine solche Namens-Komödie verwickeln oder sich als "Master" ansprechen lassen. In der von Shakespeare selbst unterzeichneten formgerechten Widmung zu seiner Verserzählung Venus and Adonis besitzen wir das Modell einer korrekten Widmung an einen Adeligen, nämlich an Henry Wriothesley (gesprochen: rotsli), den dritten Grafen von Southampton. Der bei den Sonetten stehende scheinbare Widmungstext des Verlegers Thomas Thorpe (er ist mit "T. T." unterzeichnet) unterscheidet sich von jener anderen Widmung in sämtlichen Details. Wir erfahren nichts über den angeblichen Widmungsadressaten oder darüber, welche Rolle er spielte.

Etwas anderes verwundert ebenso: Der Name des Autors "Shakespeare" wird in "Shake-speare" zerteilt. Solches geschah mit Namen in der elisabethanischen Zeit zwar nicht selten, vor allem dann, wenn man aus den nun getrennten Wörtern neuen Sinn lesen konnte. Es ist jedoch unklar, was aus "Shake-speare" gelesen werden soll. Wieder könnte man annehmen, dass – wie bei der sogenannten Widmung – mit dem nahegelegten "Schüttel-Speer" eine Mystifikation geplant war, unabhängig von der Frage, ob damit die Herkunft des Namens sprachgeschichtlich richtig oder falsch beschrieben ist.

Der Text der Ausgabe von 1609 ist gekennzeichnet von einer großen Anzahl von Satzfehlern, Missverständnissen und Unachtsamkeiten. Auch wenn über die tatsächliche Fehlerhaftigkeit sämtlicher in Verdacht genommener Stellen in der Gelehrtenschaft keineswegs Einigkeit herrscht, so wird doch die unübersehbare Nachlässigkeit der Edition nirgends wirklich bestritten. Man hat bisweilen vermutet, dass es sich um einen in Eile hergestellten Raubdruck handelt, der vom Verleger nicht die nötige Sorgfalt erhielt und jedenfalls keine Druckfahnenkorrektur vom Autor selbst. Doch herrscht auch darüber keine Gewissheit.

Inhalt

Die 154 Shakespeare-Sonette sind von einzigartiger Qualität und überragen die anderen in der elisabethanischen Epoche geschriebenen englischen Sonette an poetischer Tiefe, an Vielfalt und Originalität; schon allein darum spielen die Publikationsumstände nicht die große Rolle, die ihnen manchmal zugeschrieben wird. Es kommt auf die Texte selbst an, auch wenn ihre Druckgestalt nicht fehlerfrei ist.

Die Sonette können in Gruppen eingeteilt werden. So finden sich in den Nummern 1 bis 17 Appelle an einen jungen Mann, einen Nachkommen zu erzeugen, um so seine "Schönheit" weiterzugeben und gleichsam "unsterblich" zu werden; sie werden deshalb auch die "Prokreations"-Sonette genannt. Diese Unsterblichkeitsidee wird im Sonett 18, dem bekanntesten von allen, auch programmatisch an die Tätigkeit des Dichters geknüpft: "So long as men can breathe or eyes can see, / So long lives this, and this gives life to thee"; diese Idee ist einer der Hauptgedanken der Sonette, der immer wieder auftaucht. Andere Themen sind das Altern, die Furcht vor Liebesverlust, die Eifersucht u.v.m., im Ganzen wird eine Liebeskasuistik ausgebreitet, die bis dahin ohne jedes Beispiel ist; auch der deutsche Minnesang und der italienische Petrarkismus haben derlei nicht zustande gebracht, auch die englischen Zeitgenossen nicht. Zusätzlich mischen sich immer wieder Aussagen ein, die mit der Liebe gar nichts zu tun haben, sondern von ganz anderen Dingen reden (allgemeine Weltklage etwa in Nr. 66) bzw. poetologische Aussagen machen, - auch dies ein Novum.

Wichtig ist vor allem die förmliche Konstruktion eines bedichteten jungen Mannes, an den sich die Sonette 1 bis 126 wenden, ein völlig neuer Einfall in der Geschichte der lyrischen Tradition Petrarcas und seiner Nachfolger. War in dieser Art des Dichtens seit 300 Jahren immer eine engelschöne unerreichbare Frau der Gegenstand sowohl der liebenden Verehrung wie der daraus entstehenden Gedichte, so beendete Shakespeare diese Konvention durch eine Provokation, deren Sprengkraft bis heute wirkt, d.h. gewiss einen Teil der fortgesetzten Wirkung dieses Zyklus bis heute erklärt. Shakespeares "fair boy" ist zugleich scheinbarer homoerotischer Geliebter als auch, wie die "madonna angelicata", ein Liebesziel, das sexuell gar nicht erreicht werden soll. In Sonett 20 wird förmlich eine "androgyne Version" der angeredeten Person entworfen: "A woman's face, with Nature's own hand painted / Hast thou, the master-mistress of my passion." In diesem Akt geistreicher Parodie gibt Shakespeare seine klare Absicht zu erkennen, die petrarkistische Tradition in der Tat zu sprengen, indem er sie mit ihren eigenen Mitteln gleichsam ad absurdum führt und eben dadurch Raum für eine wirkliche Beziehungsdebatte schafft, die dem Petrarkismus fehlt, - eine Innovation, die durchaus mit den Neuerungen in seinen Dramen vergleichbar ist.

Demselben Zweck, nämlich der Hinwendung zu einer "modernen" Liebeslyrik, dient noch deutlicher die ebenso provozierende Erschaffung einer "dark lady", die ab der Sonett-Nummer 127 im Mittelpunkt steht. Der "fair lady", die bereits durch einen "fair boy" ersetzt ist, stellt der Dichter nun die "dark lady" als seine irdische Geliebte gegenüber. Es ist nun immer wieder von schierer Sexualität die Rede, - eine Unmöglichkeit im bisherigen Sonetten-Diskurs auch noch bei Shakespeares Vorläufern und Zeitgenossen, etwa Sidney, Daniel oder Drayton. Als programmatisch kann man in diesem Teil der Sonette die Nummer 130 ansehen, worin das Gegenbild zur unerreichbaren Schönen durch eine scheinbar "hässliche" Person, die aber eben deshalb die erotische Geliebte des Dichters ist, entworfen wird: "My mistress' eyes are nothing like the sun | Coral is far more red, than her lips red [...] I love to hear her speak, yet well I know, | That music hath a far more pleasing sound [...] I grant I never saw a goddess go - | My mistress when she walks treads on the ground". Shakespeares Lyrik steht plötzlich auf einem realen Boden, der im Petrarkismus nie betreten wurde; in Sonett 151 geht der Dichter gar bis zu pornographischen Anspielungen.

Vergleichbar Walther von der Vogelweide, einem anderen "Vollender" und "Überwinder" eines poetischen Diskurses, dem des deutschen Minnesangs, in dessen Zeichen er ursprünglich angetreten war, - vollendet und überwindet auch Shakespeare den Petrarkismus, 400 Jahre nach Walther. Es fällt dabei auf, wie sich die Mittel des Überwindens bei beiden Dichtern gleichen: Abwendung vom standardisierten und Hinwendung zum persönlichen Reden, dessen wesentliche Mittel Parodie, Humor und poetologische Nachdenklichkeit sind. Auch wird das wichtigste Mittel der abendländischen Liebes-Lyrik, das Vergleichen in allen seinen Formen (s. a. Metapher) von Shakespeare in Frage gestellt und durch völlig neue rhetorische Mitteln ergänzt.

Wirkungs- und Deutungsgeschichte

W. H. Auden schreibt über die Wirkungsgeschichte: "Über kein literarisches Werk ist mehr Unsinn geschrieben worden". Dies bezieht sich auf die unendliche Debatte darüber, wer mit den "Personen" der Sonette historisch-real gemeint gewesen sein mochte. Davon zunächst unbelastet waren Shakespeares Sonette zu seinen Lebzeiten und noch einige Zeit danach unter den sonneteers der Zeit berühmt und wurden oft zitiert, sie erlebten deshalb 1640 eine zweite, allerdings vom Herausgeber wegen der scheinbaren homoerotischen Tatbestände verfälschte Auflage. Sie hatten auch Einfluss auf die "metaphysical poets" (deren bekanntester Vertreter John Donne ist). Im Laufe des 17. Jahrhunderts gerieten sie zwar vorübergehend in Vergessenheit, doch wurden sie später ihrer offenkundigen Bekenntnisse wegen teils nur mit großem Befremden gelesen, ja einzelne Gedichte, etwa Sonett Nr. 20, geradezu mit moralischem Abscheu. Die philologische Wiederentdeckung begann in der Mitte des 18. Jahrhunderts, vor allem durch Edmund Malone und verstärkte sich später in der Romantik. In Deutschland setzte die Entdeckung gleichfalls im 18. Jahrhundert ein. Zuerst wurden die Sonette durch den Gelehrten Johann Joachim Eschenburg 1787 ausführlicher gewürdigt, auch wenn Eschenburg persönlich mit den Texten nicht viel anzufangen wusste. 1826 äußerte sich Ludwig Tieck zu den Sonetten und stellte Übertragungen seiner Tochter Dorothea vor, deren Identität er jedoch verschwieg.

Wir wissen nicht, ob sich hinter Shakespeares Sonetten konkrete lebensweltliche Ereignisse und Personen verbergen. Alle "Personen", die in den Gedichten auftreten, der lyrische Sprecher selbst, der junge Freund, der Dichterrivale, die dunkle Geliebte, mögen konkrete historische Personen zum Vorbild haben - oder reine Fiktion sein. Die Literaturwissenschaft hat je nach ihrem Selbstverständnis einmal das eine, einmal das andere angenommen, auch öfter sich nicht entscheiden wollen. Dass um die Wende des 18. zum 19. Jahrhunderts sowohl in England als auch in Deutschland der von Goethe gewonnene Begriff der Erlebnislyrik auch auf die Shakespeare-Sonette angewendet wurde (der englische Romantiker William Wordsworth meinte: "[...] with this key Shakespeare unlocked his heart"), ist verständlich, aber vermutlich eine jener historischen Fehleinschätzungen, die sich in den Kulturwissenschaften immer wieder durch die Vermischung historisch unterschiedlicher Diskurse ereignen.

Das 19. Jahrhundert stand im Zeichen rein biographischer Deutung, die umso verführerischer war, als über Shakespeares Leben nur wenig bekannt ist. Dieser Art des Zugangs folgte schon im Laufe des 19. Jahrhunderts eine verstärkt auf die Form sehende Rezeption, die die dichterischen Qualitäten Shakespeares betonte. Zu diesen Deutungen traten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vermehrt literaturhistorische Betrachtungen, die Shakespeares Gedichte in der Poetik seiner Zeit zu verankern suchten, aber auch mit den historischen Ereignissen und Werten der elisabethanischen Epoche verbinden wollten. Gegenwärtig werden die Sonette mit über zwei Dutzend aktuellen historisch-kritischen und kommentierten Textausgaben mehr beachtet als je zuvor. Auch die biographische Deutung wird in letzter Zeit wiederbelebt. Allerdings stehen und fallen Zuordnungen schon mit der korrekten oder falschen Einschätzung gesellschaftlicher Verhältnisse, am Ende jedenfalls immer mit der nur auf bezweifelbare Indizien gegründeten Annahme, ein bestimmter bislang anonymer Text sei zweifelsfrei Shakespeare zuzuordnen. Eine jeweils neu ausgedachte Entstehungsgeschichte der Sonette ist seit über 100 Jahren auch Gegenstand von Erzählungen, Romanen und Theaterstücken. Das heißt, es intensiviert sich nicht nur ständig die Forschung zu den Sonetten, sondern sie wirken auch unmittelbar auf die Belletristik ein. (Einige Beispiele: Oscar Wilde, The Portrait of Mr. W H, 1889; Erna Grautoff, Herrscher über Traum und Leben, 1940; Anne Cuneo, Objet de Splendeur, 1996; Hildegard Hammerschmidt-Hummel Shakespeares Geliebte, ein Dokudrama, 2003)

Übersetzungen ins Deutsche und mediales Fortwirken

Die Shakespeare-Sonette hatten schon allein durch Übersetzungen in der deutschen Literatur eine erstaunliche Wirkungsgeschichte - und sie hält an. Kein Werk der Weltliteratur - außer der Bibel - wurde häufiger ins Deutsche übersetzt. Etwa 250 Übersetzer haben sich seit dem 18. Jahrhundert, als Shakespeare in Deutschland noch heftiger als in England wiederentdeckt wurde, bis heute mit den Sonetten beschäftigt. Wir haben i. A. (Januar 2008) 70 deutsche Gesamtübersetzungen des Werks. Von zwei einzelnen Sonetten, der Nummer 18 und der Nummer 66, gibt es je an die 160 deutsche Übersetzungen. Gerade in Deutschland, aber auch in der Sowjetunion und im jiddischen Kulturraum, dienten die Shakespeare-Sonette bzw. eine neue Übersetzung des Öfteren als Identifikationsmittel und heimliche Begleiter bei Bedrängnis und Not in Diktaturen, im Exil, in der "inneren Emigration" oder während politischer und Kriegsgefangenschaft. Auch in alle anderen lebenden Schriftsprachen der Welt, unter den nicht mehr gesprochenen Sprachen auch ins Lateinische, wurden diese Sonette, z.T. mehrmals, übersetzt, - selbstverständlich auch in Kunstsprachen wie Esperanto oder sogar in das "außerirdische" Klingon. Die Sonette wurden in Deutschland zudem vertont und in Balletts umgeformt, in Mundarten übertragen, in Prosa übersetzt, in Kontrafakturen verarbeitet, illustriert, parodiert und fortgeschrieben - und waren in den letzten Jahren Gegenstand zahlreicher multimedialer Bühnendarstellungen.

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