Schande (Coetzee)

Aus Weltliteratur
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Schande (2000) (englisch: Disgrace, 1999) ist ein Roman von J. M. Coetzee. Er erhielt dafür 1999 den Booker Prize. Der Titel des Romans ist nicht eindeutig ins Deutsche zu übersetzen, da disgrace nicht nur Schande, sondern auch 'Ungnade' bedeutet. Der Inhalt rechtfertigt beide Lesarten: David, der Protagonist, ist in Ungnade gefallen, seine Tochter Lucy jedoch wurde vergewaltigt, also 'geschändet'.

Inhalt

Der Text[1] beschäftigt sich – wie oft bei Coetzee – mit dem Südafrika in der Postapartheids-Ära. Anders als in anderen Romanen verzichtet der Autor hier anscheinend auf Utopien, obgleich er in den Namen der Hauptpersonen David, Lucy und Petrus beziehungsreiche Anspielungen auf einen zukunftsträchtigen Hintergrund macht (siehe Personennamen). Er schildert die Geschichte eines gescheiterten Universitätsprofessors für Literatur. Der 52-jährige David Lurie lebt in Scheidung. Der ehemalige Frauenheld muss damit klarkommen, dass seine Attraktivität langsam schwindet. Das erste Kapitel zeigt, wie er an einer Frau scheitert, mit der er sich donnerstags in einem Stundenhotel trifft. Als er mehr von ihr will und in ihre Ehe eindringt, wird er hart abgewiesen. Nach einem Skandal um eine kurze Affäre mit einer Studentin – wer verführt wen? – wird er von einer Untersuchungskommission befragt. Obwohl er sich relativ leicht aus der Affäre ziehen könnte, weigert er sich, die von ihm erwartete Rolle zu spielen: Er leugnet nichts, ist aber auch nicht bereit, die ihm nahe gelegten Formeln zu reproduzieren. So wird er entlassen. Er zieht zu seiner erwachsenen Tochter Lucy aufs Land. Lucy hat sich von ihrer Freundin getrennt und lebt allein auf einer Farm inmitten eines von Schwarzen geprägten landwirtschaftlichen Umfelds. Die prekäre Situation, in der sich die weiße Minderheit im Südafrika in der Zeit der Postapartheid auf dem Land befindet, bestimmt von nun an auch sein Leben.

Lucy wird von schwarzafrikanischen Marodeuren vergewaltigt. David ist empört, dass seine Tochter nicht versucht, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Sie ist vielmehr wirklich guter Hoffnung, möchte ihr Kind in die Gesellschaft der schwarzen Nachbarn hineingebären und in ihrer Mitte tätig sein und das Land mit ihnen bearbeiten. Denn es geht ihr „um eine gute Ausgangsbasis für einen Neuanfang“, und zwar „von ganz unten anzufangen: (...) Ohne Papiere, ohne Waffen, ohne Besitz, ohne Rechte, ohne Würde“ (S. 266).

Themen

Neben den geschilderten Konflikten zwischen Schwarzen und Weißen sowie zwischen Männern und Frauen setzt sich der Roman auch mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Tier auseinander. David hilft, da er sonst nichts zu tun hat, einer Freundin in ihrer Tierklinik aus und entdeckt langsam das Mitgefühl. (Er mit ihr und sie mit ihm und er mit den Tieren usw.)

Ein weiterer großer Themenkomplex ist die Bedeutung der Kunst für den Einzelnen und die Welt. Als David aus der Lehr- und Forschungsmaschinerie der Universität ausgeschlossen wird, beginnt er, selbst kreativ zu sein. Im Laufe des Romans arbeitet er fortschreitend an einer Oper über Lord Byron, den romantischen Dichter. Ob dies eine Reifung des Protagonisten ausmacht, oder ob er nur auf skurrile Weise stets verrückter wird, lässt der Roman offen.

Diese komplexen Themenstränge knüpft Coetzee zu einer nur oberflächlich einfachen Story zusammen. Seine Sprache ist klar, prägnant und fast kalt, dem Protagonisten David Lurie aber durchaus angemessen. Denn David vertraut, obwohl Kommunikationswissenschaftler, der Sprache nicht mehr (S. 8/9, 152, 168). Sein Ziel wäre vielmehr, dass aus seinen Versuchen mit der Oper „irgendwo aus dem Chaos von Klängen eine einzige authentische Note der ewigen Sehnsucht aufsteigen wird, wie ein Vogel“ (S. 277). Gerade im Verhältnis zu den Schwarzen kommt ihm das Englische völlig unzureichend vor: „Er ist immer mehr davon überzeugt, dass Englisch ein ungeeignetes Medium für die Wahrheit in Südafrika ist“ (S. 152).

Personennamen

In die Bedeutung der Namen der Hauptpersonen, die sehr indirekt, aber unübersehbar auf einen Neuanfang in der südafrikanischen Gesellschaft hinweisen soll, hat Coetzee das utopische Potential verlagert, das am deutlichsten in Lucy und Petrus in Erscheinung tritt und aus dem sich David Lurie ausgeschlossen fühlt: „Zwischen Lucys Generation und meiner ist anscheinend ein Vorhang gefallen. Ich habe nicht einmal gemerkt, wann er gefallen ist“ (S. 272).

David ist mit einigen Wesens- und Handlungszügen in der Person des alttestamentarischen Königs David wiederzuerkennen, wie ihn die Überlieferung charakterisiert und als wen sie ihn angesehen hat.[2] Coetzee verleiht seiner Romanfigur sowohl die ehebrecherischen und gewalttätigen Züge des biblischen David, viel mehr aber die des Psalmensängers, als der David mit der Harfe gekennzeichnet wird. Bei David Lurie ist es das 7-saitige Spielzeugbanjo seiner Tochter, dessen er sich beim Komponieren seiner geplanten Kammeroper bedient. Lurie entlockt ihr ein Plink-plank (S. 277). Er ist aber auch der künftige „Großvater. Ein Joseph. Wer hätte das gedacht!“ (S. 281). Als Joseph, nach christlichem Glauben unbeteiligt an der Vaterschaft von Jesus, steht er in der Nachfolge des mittelalterlichen Bildes von David als Vorfahr Christi.[3]

Lucys Name ist offensichtlich angelehnt an Lucia, was vom Lateinischen her die "Leuchtende" bedeutet. Lucia ist eine historisch überlieferte Heiligengestalt.[4] Nach der Legende soll sie Jungfräulichkeit gelobt haben, zur Strafe dafür in ein Freudenhaus gesteckt werden, stattdessen aber als Märtyrerin gestorben sein. Bei Dante im "Inferno" der Göttlichen Komödie ist Lucia Trägerin des himmlischen Lichtes. – David sieht seine Tochter nach der Vergewaltigung in einer Vision von einem „weißen Lichtkreis“ umstrahlt (S. 134 f.). Sie neigt zu der Auffassung, „dass der Trieb eine Bürde ist, auf die wir ohne weiteres verzichten könnten“ (S. 118). In ihrer Schwangerschaft sieht er sie im sanften Septembersonnenlicht, ein bisschen sonnenverbrannt, und „sie sieht plötzlich wie das blühende Leben aus“ (S. 283).

Petrus ist in diesem Zusammenhang die Apostelfigur, die am weitesten in die Zukunft reicht. Im Markusevangelium 14, 66 - 72 steht aber auch, wie er Jesus dreimal verleugnet, als der seine Hilfe braucht. Bei Matthäus 16, 16 - 19 wird er dann als der Fels dargestellt, auf dem Jesus seine Kirche bauen will. – Als Romanfigur wäre er derjenige, der als unmittelbarer Nachbar Lucy wie auch David vor den Vergewaltigern schützen können sollte. Dreimal würde er gebraucht: Sowohl Lucy wie auch David Lurie rufen in höchster Not nach ihm, aber er gibt keine Antwort (S. 120, 121). Auch als Zeuge ist er „nirgends zu sehen“ (S. 140). David schätzt ihn folgendermaßen ein:

„Was ihm an Petrus gefällt, ist sein Gesicht, sein Gesicht und seine Hände. Wenn es so etwas wie ehrliche schwere Arbeit gibt, dann ist Petrus davon gezeichnet. Ein Mann voller Geduld und Tatkraft, der sich nicht unterkriegen lässt. Ein Bauer, ein paysan, ein Landmann. Ein Pläneschmied und Ränkeschmied und bestimmt auch ein Lügner, wie Bauern überall. Ehrliche Arbeit und ehrliche Bauernschläue“ (S. 152 f.).

Übersetzung

Die deutsche Ausgabe ist in der Übersetzung von Reinhild Böhnke erschienen (S. Fischer, Frankfurt 2000, ISBN 3-10-010815-9 und Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt 2006, ISBN 978-3-596-50951-5).

Anmerkungen

  1. Zitiert wird nach der Ausgabe von 2000.
  2. Vgl. König David.
  3. Vgl. Die Zeit. Das Lexikon in 20 Bänden, Zeitverlag, Hamburg 2005, Bd. 3, S. 261.
  4. Vgl. Heilige Lucia.

Literatur

  • Armin Mennecke, Koloniales Bewußtsein in den Romanen J. M. Coetzees; Heidelberg 1991


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