Der Doppelgänger (Saramago)

Aus Weltliteratur
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Der Doppelgänger (portugiesisch: O homem duplicado) ist ein 2002 in Lissabon erschienener Roman von José Saramago. Thema ist sowohl der Wechsel der Identität des Geschichtslehrers Afonso durch seinen Doppelgänger als auch die Veränderung der Identität des Lesers, der vom Autor in eine Diskussion über den Roman hineingezogen und damit zum Ko-Autor wird.

Inhalt

Der zurückgezogen lebende Geschichtslehrer Tertuliano Máximo Afonso bemerkt in einem Videofilm in einer Nebenrolle einen Schauspieler, der ihm verblüffend ähnlich sieht. Afonso ermittelt den bürgerlichen Namen seines Doppelgängers und nimmt Kontakt zu ihm, dem Schauspieler Daniel Santa-Clara, auf. Sie vereinbaren ein Treffen und stellen fest, dass sie in ihren Gesichtszügen, in ihrer Stimme und sogar den Narben und Muttermalen identisch sind – die Natur hat sie bis in die Kleinigkeiten dupliziert.

Während der Geschichtslehrer beginnt, sich mit seinem Doppelgänger abzufinden, treibt den Schauspieler verletzte Eitelkeit und sexuelle Gier, bei der Geliebten des Geschichtslehrers für eine Nacht dessen Platz einzunehmen. Er erpresst den Geschichtslehrer, lässt sich von ihm mit dessen Kleidung und Auto ausstatten und startet in eine Liebesnacht ohne Rückkehr: Die Geliebte des Lehrers entdeckt morgens an einem winzigen Detail die Täuschung und beide sterben auf der Rückfahrt in einem Autounfall, vermutlich nachdem es im Wagen zu Handgreiflichkeiten gekommen war. Dem Geschichtslehrer wird damit die Geliebte und seine bisherige Identität genommen, aber die Frau des Schauspielers, bei der der Geschichtslehrer aus Rache dieselbe Nacht verbracht hat, bietet ihrem überraschend zärtlichen Liebhaber die Identität ihres verunglückten Mannes als Ersatz an.

Eine letzte Pointe: Während der Geschichtslehrer auf die Rückkehr seiner neuen Gefährtin vom Begräbnis ihres Mannes in der geliehenen Identität des Lehrers wartet, ruft ein weiterer Doppelgänger des Schauspielers den Geschichtslehrer an, der sich gerade in seine neue Identität hineinzudenken beginnt. Der Lehrer vereinbart ein Treffen an einem abgelegenen Ort und, der Verwirrspiele müde, steckt den nun geladenen Revolver des Schauspielers ein.

Erzählweise

Der der Figur des Geschichtslehrers nahe stehende Erzähler berichtet linear von den Ereignissen, die der Entdeckung des Doppelgängers in dem Video folgen. Die Erzählung schreitet langsam voran: Erst nach etwa der Hälfte der Druckseiten kennt die Hauptfigur den bürgerlichen Namen ihres Doppelgängers, nach wieder fünfzig Seiten treffen die beiden sich zum ersten Mal und nach etwa 300 Seiten hat der Roman genug Anlauf für die folgenden dramatischen Endereignisse und Pointen genommen.

Hauptursache der Handlungsverzögerung und anfänglichen Pointenersparung ist die Vielzahl von Exkursen, die der Erzähler als Begleiter der Hauptfigur und als Berichterstatter über seine Arbeit des Schreibens einstreut. An einigen Stellen ergänzt der Autor auch konjunktivische Andeutungen möglicher, aber in diesem Roman noch nicht weiter verfolgter Ereignisketten. Die Orientierung des Lesers wird auch nicht dadurch erleichtert, dass der Autor mit Satzzeichen sparsam und mit Tempuswechseln dagegen verschwenderisch umgeht.

Der Stil Saramagos wird vor allem durch drei handwerkliche Strategien bestimmt:

Die erste der strategischen Entscheidungen des Autors ist die Zerstörung der epischen Illusion, der in die Ängste und zukünftigen Widerfahrnisse seiner Figuren eingeweiht ist und sie häufig schon im Voraus ankündigt oder nachträglich kommentiert. Der Autor bezieht sich nicht mehr auf das als wirklich inszenierte Geschehen, sondern auf die von ihm geschaffene oder schon konzipierte Erzählung.

Eine zweite strategisch wichtige Entscheidung sind die Werkstattgespräche, in welchen der Erzähler seine literarischen Entscheidungen für den Leser begründet: "Als wären sie eine Art Zeitmaschine, werden diese vier Worte, es ereignete sich nichts, überwiegend in Situationen eingesetzt, in denen …" Oder: "… denn vor ein paar Stunden ((gemeint ist die für den Leser verflossene Zeit)) haben wir erfahren, dass …" Oder: "(…) denn so verführerische Begriffe wie Schicksal, Verhängnis oder Bestimmung haben in diesem Diskurs nichts zu suchen" Oder: "Es kommt gerade der Zweifel auf, ob das soeben Geschriebene, beginnend mit dem Wort "Selbst ehrenwerte" und endend mit "Nöte sind", nicht in Wirklichkeit …" Mit diesen und vielen anderen handwerklichen Erläuterungen, die immer wieder den narrativen Film des Romans dekonstituieren, verwickelt Saramago seinen Leser in ein Werkstattgespräch, dass die zentralen literarischen Kategorien bilateral evoziert. So zum Beispiel: "Ehe wir jedoch fortfahren, verlangt die Harmonie dieser Erzählung, dass wir ein paar Zeilen auf die Analyse eines vielleicht unbemerkt gebliebenen Widerspruchs verwenden (…) Ein kleiner Exkurs zu den letzten Seiten des vorangegangenen Kapitels wird uns sogleich diesen grundsätzlichen Widerspruch vor Augen führen (…)."

Eine dritte strategische Entscheidung ist die radikale stilistische Selbstkritik des Autors, die in enger Korrespondenz mit den Leseerlebnissen seiner Leser steht. Mehrfach provoziert der Autor eine wohldosierte Müdigkeit, ja, einen gewissen Überdruss an der Langatmigkeit, an der Unterbrechung des immer dünner werdenden Handlungsfadens durch einen der erstaunlichen Exkurse – bis er einräumt, dass er etwas "mit vielleicht übertriebener Genauigkeit beschrieben" habe oder "dass der erste Teil des Satzes eigentlich genügt hätte" oder "dass (es) eventuell gar keiner so detaillierten und umständlichen Erklärung unsererseits bedurft hätte." Und in wieder pädagogischer Absicht erläutert der Autor, dass "uns diese langatmige Reflexion über Ursprung und Bestimmung der Wörter so weit von unserem eigentlichen Thema entfernt (hat), dass (…)" Alle diese den Leseeindruck in perfekter Lesereinfühlung zusammenfassenden Selbstkommentare des Autors verweisen auf die Notwendigkeit, eine zeitgemäße Lesekompetenz zu entwickeln, die sich ein eigenes Urteil über Literatur zutraut.

Deutung

Zunächst weisen der Titel und die linear erzählte Handlung auf das Verhängnis der Individualität hin, die für die Hauptfigur des Geschichtslehrers Schutz und Bürde zugleich ist. Mit der Entdeckung des Doppelgängers gerät die prekäre psychische Balance des Máximo Afonso so sehr aus dem Gleichgewicht, dass er es mit kriminellen und - bisher - nicht zu ihm passenden Mitteln wieder zu stabilisieren sucht. Individualität als eine zweite Haut, ein Gehäuse, in dem nur einer wohnen kann – das ist die eine Lektion.

Eine andere Deutung könnte die an vielen Stellen verstreuten Motive einer éducation littéraire im Zusammenhang sehen und in dieser Erzählweise einen subtextuellen permanenten Dialog zwischen Autor und Leser über vielleicht Die Kunst des guten Erzählens entdecken. Saramago hätte somit ein Lernbuch geschaffen, das den Leser in die wesentlichen Schaffensfragen heutiger Literaturproduktion einbezieht: Was passiert mit einer Idee, die eine Kurzgeschichte gut und einen Roman nicht erträgt? Wie eng und wie mäandernd kann ein Autor den Leser zu seinem Thema oder an ihm vorbei führen? Bei welchem Wortverhau amüsiert und bei welchem langweilt sich ein Leser? Diese Textur der bilateral diskursiven Kompetenz ist eine Fundgrube für den aufmerksamen Leser, den Saramago immer wieder direkt anspricht und somit auf den handlungsverarmten ersten vier Fünfteln doch noch wach hält.

Im Rahmen der experimentellen Werke zeitgenössischer Autoren hat sich Saramago mit seinem Doppelgänger trotz seines hohen Alters zu denen gesellt, die die konventionellen Formen der Literaturproduktion und –rezeption durch Dekonstruktion des Erzählens erweitern wollen. Der Roman ist damit ein Experiment der modernen écriture pédagogique.


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