Chinua Achebe

Aus Weltliteratur
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Chinua Achebe (eigentlich Albert Chinualumogu Achebe) wurde am 15. November 1930 in Ogidi, im heutigen Bundesstaat Anambra im Südosten Nigerias geboren. Er gehört zu den international berühmtesten Schriftstellern Afrikas, erhielt 2002 als zweiter Afrikaner nach Léopold Sédar Senghor den renommierten Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und im Juni 2007 den Man Booker International Prize für seinen nachhaltigen Beitrag zur Weltliteratur. Auf dem afrikanischen Kontinent ist Achebe der wohl meistgelesene afrikanische Autor.

Leben

Achebes Heimatregion und gesellschaftliches Umfeld

Als Igbo gehört Achebe einem der drei Mehrheitsvölker (Hausa-Fulani, Igbo, Yoruba) im Vielvölkerstaat Nigeria mit seinen annähernd 400 Ethnien an. Die moderne Geschichte dieses Volkes ist untrennbar mit dem Bürgerkrieg um Biafra (1967-70) und der letzten Verteidigungsschlacht gegen die britischen Invasoren verbunden, bei der die Briten 1902 das Igbo Orakel Aro-Chukwo zerstörten. Beide Ereignisse spiegeln sich auch mittelbar im Werk Achebes wider, der in einer christlichen geprägten Umgebung aufwuchs, wo die Katholische und Anglikanische Kirche dominierten, wo aber viele Christen zugleich auch ihre traditionellen Religionen ausübten. Sein Vater war Katechist und Lehrer der anglikanischen Church Missionary Society, und nach dem Besuch der Missionsschule besuchte Achebe Mitte der 1940er Jahre das Elite-College in Umuahia im heutigen Bundesstaat Abia. Daran schloss sich ein geisteswissenschaftliches Studium am University College in Ibadan im Yoruba-Gebiet an, das er 1953 abschloss.

Im Gegensatz zum Volk der Yoruba, wo sein berühmter Schriftstellerkollege Wole Soyinka aufwuchs, gab es in der Igbo-Gesellschaft, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, keine zentralistischen Organisationsformen und Könige. Das bereitete der Kolonialmacht erhebliche Probleme, in der Region kostengünstige Verwaltungs- und Herrschaftsstrukturen aufzubauen. Vielmehr regelten die unzähligen Dorfgemeinschaften, Clans, Großfamilien und die Versammlungen der Ältesten das Leben der Gruppe, und jeder Erwachsene konnte an wichtigen Entscheidungen der Dorfgemeinschaften teilnehmen. Diese Strukturen erzeugten zwischen den beiden Weltkriegen auf Grund eines extremen Bevölkerungswachstums im bereits dicht besiedelten Igbo-Gebiet eine Migrationswelle, die zahlreiche Igbo-Enklaven im gesamten Kolonialgebiet entstehen ließ. Bevölkerungsdruck, Landknappheit, Christianisierung und Migration führten so zu einem Modernisierungsschub innerhalb der Igbo-Gesellschaft, die während der Spät- und Endphase des Kolonialismus landesweit eine weitaus größere Zahl an Gebildeten und Ausgebildeten vorzuweisen hatte als die übrigen Volksgruppen. Beispielhaft steht dafür der in Nordnigeria geborene erste nigerianische Generalgouverneur und erste Präsident Nnamdi Azikiwe (1904-96), der diese beiden Ämter von der Unabhängigkeit 1960 bis zum ersten Militärputsch 1966 innehatte. Dies wiederum förderte einen Igbo-Nationalismus, der die Igbo-Elite in ihrem Anspruch bestärkte, zur politischen Führung in einem unabhängigen Nigeria prädestiniert zu sein.

Der Anspruch der Igbo scheiterte 1970 mit der Niederlage im Kampf um ein unabhängiges Biafra, den auch Achebe als Sonderbotschafter der Sezessionisten in Europa und in den USA mit trug und in dem es auch um die Kontrolle der Ölreichtümer im nahen Niger Delta ging. Damit stand er politisch diametral zum Einsatz Wole Soyinkas, der Sezession und Bürgerkrieg unter allen Umständen vermeiden und politische Lösungen suchen wollte. Achebes schriftstellerisches Talent hatte ihn Mitte der 1950er Jahre zum Nationalen Radiosender “Nigerian Broadcasting Corporation“ in Lagos geführt, wo er mit der Niederschrift seines ersten Romans “Things Fall Apart“ (Okongwo oder das Alte stürzt) begann, der 1958 erschien. Bereits im Unabhängigkeitsjahr 1960 kam der zweite Roman “No Longer at Ease“ (Heimkehr in ein fremdes Land) und vier Jahre später der dritte “Arrow of God“ (Der Pfeil Gottes) heraus. Im Kontext der Militärputsche 1966, die das Vorspiel zum Bürgerkrieg bildeten, veröffentlichte Achebe, der in inzwischen zum Leiter der neuen Auslandsabteilung “Voice of Nigeria“ aufgestiegen war, “A Man of the People“ (Ein Mann des Volkes). Doch beendeten die Staatsstreiche 1966 und der bevorstehende Bürgerkrieg frühzeitig seine Rundfunkkarriere.

Nach dem Bürgerkrieg begann er am Institut für afrikanische Studien der Universität von Nigeria in Nsukka seine wissenschaftliche Karriere und blieb dort bis zur Emeritierung 1985. Als Gastprofessor war er auch ein gern gesehener Dozent an US-amerikanischen und britischen Universitäten, und in dieser Zeit entstanden zahlreiche Essays, Gedichte und auch Kinderbücher. Seine politische Abrechnung mit den neuen Potentaten erschien aber erst 1987, als er 21 Jahre nach “A Man of the People“ seinen fünften Roman “Anthills of the Savannah“ (Termitenhügel in der Savanne) schrieb, als beißende Kritik an der herrschenden Elite, die weder Massenbasis noch Legitimation besitzt. So lehnte er 2004 auch folgerichtig die staatliche Auszeichnung zum “Commander of the Federal Republic“ durch den gewählten Staatspräsidenten General a.D. Olusegun Obasanjo ab. Die Wahlfarce 2007, die zwar erstmals in der nigerianischen Geschichte zu einem Machtwechsel unter formal demokratischen Bedingungen geführt hatte, bestätigte Achebe in seiner distanzierte Grundhaltung zu den heutigen politischen Eliten.

Chronik

1930 geboren in Ogidi, Südost-Nigeria

1944-47 College in Umuahia

1948-53 Studium am University College in Ibadan

1954-66 Redakteur der Nigerian Broadcasting Corporation und Leiter der 1961 gründeten Auslandsabteilung Voice of Nigeria

1966 Rücktritt von der Nigerian Broadcasting Corporation und Rückkehr in seine Heimatregion

1967-70 Bürgerkrieg um die abtrünnige Republik Biafra. Achebe dient als Sonderbotschafter in Europa und Übersee

1970-85 Research Fellow am Institut für afrikanische Studien der Universität von Nigeria, Nsukka

1972-75 Gastprofessor an der Universität von Massachusetts, Amherst, USA

1975-76 Gastprofessor an der Universität von Connecticut, Storrs, USA

1976-90 Leitung des Fachbereichs Literatur an der Universität von Nigeria, Nsukka

1979 Vortrag auf dem Horizonte Festival in Berlin: Hindernisse für einen Dialog zwischen Nord und Süd

1981 Mitbegründer und erster Präsident der Association of Nigerian Authors (ANA)

1987-88 Professor an der University of Massachusetts, Amherst, USA

1990 Verkehrsunfall in Nigeria und Übersiedung nach New York

1998 Gastdozentur an der Harvard University, USA

2002 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

2004 Ablehnung der Auszeichnung durch die Nigerianische Regierung zum Commander of the Federal Republic

2007 Man Booker International Prize für sein Gesamtwerk

Werk

Der schriftstellerische Erfolg des jungen Achebe basierte auf den drei Romanen “Things Fall Apart“ (Okonkwo oder das Alte stürzt)“, Arrow of God“ (Der Pfeil Gottes) und “No Longer at Ease“ (Heimkehr in ein Fremdes Land), die inhaltlich eine Einheit darstellen und einen Zeitraum von drei Generationen überbrücken. Sie erschienen zwischen 1958 und 1964, an deren Enden der bevorstehende Abzug der britischen Kolonialisten und das bereits erkennbare Scheitern der I. Republik stehen. In dieser Umbruchphase und politisch turbulenten Zeit versuchte Achebe, hinter die historisch kurze Phase des Kolonialismus zu schauen und die Brüche der traditionellen Gesellschaften bloßzulegen, die schon vor ihrer Unterwerfung unter das koloniale Joch den Boden für radikale Veränderungen bereitet hatten. Achebes Helden scheitern zumeist tragisch, und ihre jeweiligen Schicksale enden in der Katastrophe. Auf diese Weise vermeidet er einseitige Schuldzuweisungen an die europäischen Eindringlinge, lässt den Leser aber zugleich mitleiden und gibt ihm auch die Botschaft mit auf den Weg, dass hinter jedem Feind auch ein Freund steht, dass jenseits des Hasses die Liebe blüht und Afrikas Stärke in seiner Beziehungsfähigkeit liegt.

Werke

Romane

Kurzgeschichten

  • Marriage Is A Private Affair, 1952
  • Dead Men's Path, 1953
  • The Sacrificial Egg and Other Stories, 1953
  • Civil Peace, 1971
  • Girls at War and Other Stories, 1973
  • African Short Stories (editor, with C.L. Innes), 1985
  • Heinemann Book of Contemporary African Short Stories (editor, with C.L. Innes), 1992

Gedichte

  • Beware, Soul-Brother, and Other Poems, 1971, published in the US as Christmas at Biafra, and Other Poems, 1973 (Zwölf Gedichte mit Zeichnungen von Obiora Udechukwu, 1990)
  • Don't let him die: An anthology of memorial poems for Christopher Okigbo (editor, with Dubem Okafor), 1978
  • Another Africa, 1998
  • Collected Poems, 2004
  • Refugee Mother And Child

Essays

  • An Image of Africa: Racism in Conrad’s Heart of Darkness, 1975 (Ein Bild von Afrika, Essays, 2002. Darin enthalten: Rassismus in Conrads “Herz der Finsternis“; Afrikanische Literatur als Wiedergeburt der Feier; Arbeit und Spiel in Tutolas “Palmweintrinker“; Gewidmet Victoria, Königin von England; Kolonialistische Literaturkritik; Die Wahrheit der Fiktion; Hindernisse für einen Dialog zwischen Nord und Süd)
  • The Novelist as Teacher, 1965
  • Morning Yet on Creation Day, 1975
  • The Trouble With Nigeria, 1984
  • Hopes and Impediments, 1988
  • Home and Exile, 2000

Kinderbücher

  • Chike and the River, 1966
  • How the Leopard Got His Claws (with John Iroaganachi), 1972
  • The Flute, 1975
  • The Drum, 1978

Bedeutung und Wirkung

Achebe gilt als der afrikanische Autor, der den inneren Zerfall der traditionellen afrikanischen Gesellschaft und das gleichzeitige Eindringen des europäischen Kolonialismus detailliert wie kein anderer seiner schreibenden afrikanischen Zeitgenossen am Beispiel seiner Igbo-Heimat literarisch aufgearbeitet hat. Dabei baute er die für Afrika so typische orale Tradition und die Betonung des Lokalen in seine Erzählprosa nachhaltig ein, was letztlich auch den Erfolg seiner Bücher bei den afrikanischen Lesern ausmacht. Denn diese Tradition basiert auf der ständigen Benutzung von Sprichwörtern, “die das Palmöl sind, mit dem das Gespräch in Afrika gewürzt wird“. Seine späteren Werke widmen sich dann der literarischen Aufarbeitung des Bürgerkrieges und den tiefen Enttäuschungen, die Militarisierung, Korruption und zivilisatorischer Verfall der neuen machthungrigen Eliten hervorgerufen haben. Ein schwerer Verkehrsunfall in seinem Heimatland 1990, von dem er sich niemals mehr richtig erholen konnte und der ihn seitdem gelähmt an den Rollstuhl fesselt, beendete abrupt seine schriftstellerische Arbeit. Trotz der schweren körperlichen Einschränkung, hält er auch heute noch an Universitäten in seiner Wahlheimat USA, wohin er nach seinem Unfall seinen Lebensmittelpunkt verlegt hatte, gelegentlich Vorlesungen, die dann teilweise auch als Essays erscheinen.

Chinua Achebe gilt als Mitbegründer, vielleicht sogar als “Vater der modernen afrikanischen Literatur“. Er stellt den genuin afrikanischen Kontext ins Zentrum seiner Werke, die damit auch für jeden Afrikaner leicht zugänglich und erschließbar sind. So ist es nur folgerichtig, dass Achebe auf dem afrikanischen Kontinent zum festen Kanon aller Schulformen und Altersklassen gehört. Aber sein Wirken geht weit über diese erfreuliche Entwicklung hinaus. Denn als Literaturberater des britischen Verlages Heinemann war er maßgeblich an der “African Writers Series“ beteiligt, die auch ins Deutsche übersetzt wurden. Die “African Writers Series“ stellte der spät- und post-kolonialen afrikanischen Schriftstellergeneration eine einzigartige Plattform zur Verfügung und bot die Werke zugleich einem internationalen Publikum kostengünstig an. Achebe bediente sich, wie die meisten afrikanischen Schriftsteller, bewusst der Sprache der Kolonialherren – er unternahm nur wenige Versuche, in seiner Muttersprache Igbo zu schreiben – denn nur so konnte er eine große Leserschaft innerhalb und außerhalb Afrikas erreichen. Er bereicherte die englische Sprache mit einer Vielzahl afrikanischer Elemente und erweiterte somit den bestehenden gewaltigen Sprachschatz. Sein Vermächtnis besteht aber darin, über seine Literatur und ohne beschönigende Beschreibungen einen wesentlichen Beitrag zur Wiederherstellung des Selbstwertgefühls der Afrikaner beigetragen zu haben.

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